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Sardinien

© Celentano/laif

Sardinien: Das leise Knistern der Macchia

Das Herz von Sardinien ist bergiges Hirtenland. Hier wird Schafsmilch zu köstlichem Pecorino. Gäste können zusehen.

Die Schafe blöken. Ihre Glocken bimmeln hell durch die blaue Morgendämmerung in den Bergen Sardiniens. Unter den trappelnden Hufen knistert die vertrocknete Macchia. Es ist Zeit zum Melken. Eilig und tumb hastet die Herde unter Kork- und Steineichen hindurch. In den Senken bilden die Tiere ein zotteliges, bähendes, hektisches Knäuel, fast an jedem Felsbrocken entsteht ein Stau. Doch Guiseppe Costa bleibt geduldig. In aller Ruhe pfeift, ruft und treibt der 52-jährige Schäfer sein Vieh zur Futter- und Melkstation.

Dort wartet bereits Helfer Pietro Soru mit den Milchkannen. Die ersten rund fünfzig Tiere drängen sich in zwei Reihen um die Futterrinne. Guiseppe und Pietro schnappen sich die Eimer, klemmen ein Hinterteil nach dem anderen zwischen ihre Knie und streichen in rasendem Tempo die Milch aus den Eutern. Eineinhalb Liter pro Tier, 72 Liter pro Durchgang, rund 200 Liter von allen 134 Mutterschafen insgesamt – das ist der naturreine Rohstoff für den traditionellen Käse der Brüder Costa im bergigen Herzen von Sardinien. „Alles Natur“, brummelt der Schäfer, während er sich nach der Arbeit erst einmal eine filterlose Zigarette dreht.

Während Guiseppe sich um die Schafe kümmert, serviert Antonio in seiner Bauernstube das Frühstück. Aus der Küche zieht der Duft von starkem Kaffee herüber. Auf dem Büfett sind Brot, Eier, Butter und Marmelade angerichtet – und natürlich Käse in den verschiedensten Varianten: milder Ricotta, kräftiger Pecorino sardo sowie der deftige, strenge Fiore sardo. „Alles selbst gemacht“, sagt Antonio und streicht sich stolz mit der Hand über den kahlen Schädel. Antonio, 61 Jahre alt, ist der Älteste der Brüder Costa. Gemeinsam mit dem „kleinen“ Guiseppe hat er den Hof der Eltern übernommen, die Schafzucht, die Olivenbäume und die Weinberge. Und er hat das Familienerbe zu einem Agrotourismusbetrieb ausgebaut, der sich über die Provinz Nuoro hinaus einen Namen gemacht hat.

Der Hof liegt einsam in den hügeligen Bergen der Serra d’Orotelli auf 700 Meter Höhe. Vom Bauernhaus schweift der Blick über die tiefer gelegene Provinzhauptstadt Nuoro und ihren Hausberg Monte Ortobene. Weiter südlich türmt sich das kahle Gebirgsmassiv Sopramonte bis zu 1463 Metern auf. Etwas weiter westlich erhebt sich das wilde „Dach Sardiniens“, die Barbagia, das Land der Banditen und Viehdiebe, der Blutrache und Selbstjustiz.

Hier, bei den Costas, herrscht Frieden. Die 150 Hektar Weideland sind gespickt mit Eichen und Felsbrocken – ein ruhiges Fleckchen Erde. Und da die Brüder von der Käseproduktion, dem Inbegriff der sardischen Wirtschaft, allein nicht mehr leben konnten, beschlossen sie Anfang der 90er Jahre, die Schönheit ihres abgelegenen Hofes und die Stille besser zu nutzen. „Außerdem hatte ich fast 50 Jahre Pecorino produziert“, meint Antonio, und seine roten Wangen verziehen sich zu einem breiten Grinsen. „Da musste etwas Neues her.“

1991 richteten sie die ersten Gästezimmer ein. Inzwischen haben die Costas auf ihrer „Azienda“ zehn Zimmer, einen Stellplatz für Caravans und ein großes Restaurant mit Bar. In den Vorratsräumen türmen sich eingelegte Artischocken, Oliven und Auberginen. Die Brüder bieten Käsemenüs samt selbst produziertem Rotwein Cannonau an, veranstalten Wander- und Reittouren und richten Feste aus.

„Wir sind aber keine Hoteliers“, sagt Guiseppe, nimmt die Kippe aus dem Mundwinkel und schiebt die Mütze aus der Stirn, „wir sind Schäfer.“ Antonio nickt zustimmend: „Unsere Familie hütet seit mehr als 150 Jahren Schafe. Die Zucht und der Käse sind unsere Hauptbeschäftigungen.“ Dem Käse widmet er sich auch am heutigen Vormittag. Mit der Schürze in der Hand geht er über den Hof in die Käserei. Kühl ist es in dem gekachelten Raum. Neben dem Gasbrenner, einem Holztisch und Rührstäben baumelt nur noch ein mächtiger Haken von der Decke herab. „Fürs Schlachten“, erklärt Antonio. Natürlich steht auf seiner Speisekarte auch Lamm in allen Variationen. Aber jetzt ist erst mal der Käse dran. Die Hauptproduktionszeit von Pecorino ist im März.

Antonio spült den Kochtopf aus, schüttet die Milch hinein und zündet den Gaskocher an. „Für Pecorino brauche ich eine Temperatur von 35 bis 37 Grad Celsius“, sagt er, hält nach einigen Minuten den Finger kurz hinein und nickt. „Fertig!“ Zum Beweis nimmt er ein Thermometer: 36 Grad. „Das habe ich im Gefühl“, sagt er brummend und gibt einen Schuss Lab hinzu. Durch den Biokatalysator gerinnt das Kasein der Milch. Antonio wartet, bis er mit der Konsistenz zufrieden ist und greift dann langsam mit bloßem Arm in den Topf. „Jetzt wird’s magisch“, nuschelt Guiseppe beschwörend. Sein Bruder zaubert eine verdickte Masse aus der weißen Flüssigkeit hervor, die aussieht wie ein nasser Feudel. Rasch stopft er sie in eine Form und presst die Molke heraus, aus der er später den Ricotta kochen wird. „Ein guter Pecorino darf keine Flüssigkeit mehr enthalten“, erklärt der Fachmann. 24 Stunden wird der Käse in Salzlake ruhen, danach muss er einen Monat reifen. 500 Kilogramm Pecorino produzieren die Schäfer im Jahr. „Das reicht für die Familie und die Touristen“, sagt der Hausherr. Die restliche Milch verkauft er an die Kooperative von Nuoro für 60 Cent pro Liter.

Guiseppe holt seine Mutter aus der Stadt. Antioca Busio lebt mit ihren 87 Jahren allein in einer kleinen Wohnung. Tagsüber ist sie oft auf dem Hof, redet mit ihren Söhnen, den Arbeitern und den Besuchern, nestelt an den Geranien herum oder sitzt einfach im kühlen Schatten der dicken Steinmauern. Ein anrührendes Bild, wie die alte Frau zwischen dem Treiben auf dem Korbstuhl ruht, mit ihrem schlohweißen Haar, dem schwarzen Kopftuch, dem Faltenrock und der Schürze. Sie ist zufrieden mit dem Wandel ihres Hofes, auf dem es jedoch selten so hektisch wird wie an diesem Abend.

Noch vor dem Essen fährt ein Minibus vor. Vier muskulöse Typen in Shirts und Filzpantoffeln steigen aus. Ohne viel Worte schleppen sie Bretter, Eisenstangen, Elektromotoren, Kabel und eine Stereoanlage in den Stall. Guiseppe und Pietro haben die Schafe am Nachmittag bereits zusammengetrieben. Jetzt drängen sich die Tiere lauthals protestierend vor dem Eingang. „Okay“, ruft einer der vier Ankömmlinge. Das Tor geht auf, die Schafe springen in den Stall. Die Sarden ziehen eins nach dem anderen zu den Schafscherern. Die legen los. Schaf zwischen die Beine, Elektroschere angeworfen, und schon fliegt die Wolle durch die Luft. Der Lärm im Stall ist unerträglich: Die Elektromotoren dröhnen, Hardrock wummert aus der Stereoanlage, die Schafe blöken, als ginge es um ihr Leben. Keine 20 Minuten dauert das Spektakel, dann kehrt Stille ein. Draußen irren ihrer Wolle beraubte Vierbeiner herum. Guiseppe und Pietro treiben die nächste Charge Schafe zum Trog, weiter geht’s.

Nach zwei Stunden sind über 200 Schafe geschoren, Wollhaufen türmen sich. „Das sind sicher 220 Kilo“, schätzt Antonio. Die neuseeländischen Wanderarbeiter bekommen 1,65 Euro pro Tier. Die Wollfabrik in der Provinz Sassari zahlt zwischen 50 und 70 Cent pro Kilo. „Das ist ein Verlustgeschäft, aber wenigstens habe ich danach meine Ruhe“, stöhnt Antonio, nachdem die Kolonne weg ist. „Das hat nichts Natürliches mehr“, mault Guiseppe. „Die Arbeit mit den Schafen ist eine liebevolle, friedvolle Angelegenheit, aber das eben war mal wieder schlimm!“ Die Costas haben keine andere Wahl. Wenn sie das Scheren selbst übernehmen, brauchen sie eine knappe Woche. Also bestellen sie einmal im Jahr die neuseeländischen Akkordarbeiter und begleichen die Rechnung mit ihren Einnahmen aus Tourismus und Käseproduktion.

Feierabend. Der Ricotta zergeht auf der Zunge, die Ravioli sind ein Gedicht. Bei einem Glas Cannonau erhält der Tag doch noch einen gemütlichen Ausklang. Am nächsten Morgen ist der Wahnsinn vergessen. Die Schäfer gehen zufrieden ihrer gewohnten Arbeit nach.

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