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Trafoi: Eine Kristallkugel für jeden Sieg

Wenn es im Training nicht lief, zog sich Gustav Thöni in seinen Heimatort Trafoi zurück. Die Abgeschiedenheit in Südtirol gibt Kraft, noch immer

Der Sessellift in Trafoi sieht schon etwas angejahrt aus. Nur wenige Menschen stehen an, Trafoi ist ein kleines Familienskigebiet. „Servus Gustl“, sagt der Mann am Lift, „fahrst amoi wieder Ski?“ Der ehemalige Olympiasieger nickt nur. Denn wenn es nicht unbedingt sein muss, sagt Gustav Thöni lieber gar nichts. Thöni ist nicht unhöflich, er macht nur nicht viele Worte. An der Mittelstation warten Italiener, „Ciao Gustavo!“, rufen sie. Er winkt zurück, seine Augen – blau wie der Skianzug – strahlen.

Der kleine Gustav fuhr einst auf dem Radetzkymarsch Ski. Das ist wörtlich zu verstehen: Gustavs Vater klaute der Großmutter aus der Musiktruhe den Radetzkymarsch, schmolz die Schellackplatte ein und strich den Lack unter die Holzskier. Es hatte sich in den fünfziger Jahren bis nach Trafoi herumgesprochen, dass es nun Skier mit Belag gab, da wollten die Südtiroler Burschen nicht hintanstehen.

Gustavs erste Bretter sahen aus wie ein Stück Fassdaube. Der Großvater hatte sie geschnitzt, ein Einzelner davon hat tatsächlich bis heute überlebt. Zu sehen ist das gute Stück in einer Galerie im Hotel „Schöne Aussicht“ in Trafoi. Im hinteren Teil der Galerie stehen vier Kristallkugeln, denn der kleine Gustav aus Trafoi wurde zum großen Gustav Thöni, einer italienischen Skilegende, der in den 70ern so ziemlich alles nach Hause brachte, was in der Welt des Skisports zu gewinnen ist. Außer olympischen Goldmedaillen auch vier Mal den Weltcup, die Kristallkugeln.

Er sei immer gern hierhergekommen, erzählt Thöni auf die Frage nach dem Unterschied zwischen der großen Welt des Skizirkus und seinem kleinen Heimatdorf. „Wenn es mal nicht so lief“, habe er das Training abgebrochen, sei einfach hier ein paar Tage auf der Piste gefahren. „Dann ging es wieder.“

Damals hätte man an den guten Ruf des Thöni anknüpfen sollen, die flotten Anfänge des Skisports in Trafoi weiterführen, die Seilbahn bauen müssen, sagen Einheimische. Mit „die Seilbahn“ ist immer nur das eine gemeint: eine Verbindung des Dorfes mit dem Sommerskigebiet auf dem Stilfserjoch. In schneearmen oder warmen Wintern, wenn nicht einmal Schneekanonen etwas ausrichten können, schauen sie zerknirscht hinauf zur berühmten Passstraße aufs Joch, die im Winter geschlossen ist, und rufen: „Dort oben braucht’s keine Schneekanonen, da liegt immer Schnee, aber die Lifte laufen nicht.“ Und vor ihrem geistigen Auge sehen sie Gondeln, die über den mächtigen Ortlergletscher hinaufschweben ins sonst unerreichbare Skigebiet. Wer weiß, vielleicht mit dem neuen Investor, sagen sie.

Man mag den Menschen im Dorf ungern die Hoffnung nehmen, aber diese Gondelbahn wird es niemals geben. Man muss kein Prophet sein, um diese Wahrheit zu sehen. Nur Realist. Mindestens zwei triftige Gründe sprechen dagegen: jener Investor sowie der Nationalpark. Walter Klaus, gebürtiger Augsburger, kaufte 2002 die Trafoier und die Suldener Lifte. Für den über 70-Jährigen sind die Anlagen Bausteine seines Touristik imperiums, zu dem Lifte, ein Weingut, eine Beteiligung an der Bodenseeflotte, Wohnungen und ein Restaurant gehören. Was sollte den Geschäftsmann dazu bringen, die sentimentale Idee eines alten Liftprojektes zu verwirklichen? Gibt es doch in Sulden, auf der anderen Seite des breitschultrigen Ortlers gelegen, bereits ein Gletscherskigebiet.

Und: Trafoi liegt im Nationalpark, dem größten Italiens. Zum Nationalpark gehören Orte wie Glurns, Prad und eben Sulden und Trafoi, mitsamt ihren Skigebieten. Um dem Namen Nationalpark überhaupt gerecht zu werden, gibt es streng geschützte Kernzonen. Derzeit arbeitet die Nationalparkverwaltung einen neuen Kernplan aus, „einige Abschnitte auf das Joch werden in der sensiblen Zone des Parks liegen“, erklärt Hanspeter Gunsch von der Nationalparkverwaltung.

Den Trafoiern blutet das Herz, man kann es ja verstehen. Gustav Thöni sitzt auf der Terrasse der Furkelhütte, dem einzigen Lokal im Skigebiet, ohne Zweifel einer der großartigsten Aussichtsplätze der Ostalpen. Im Tal liegt das 80-Seelen-Dorf in einer Arena von Bergen. Gegenüber baut sich im gleißenden Sonnenlicht der Ortler auf. Rechts davon ziehen sich die 48 Kehren der Passstraße hinauf. Da oben, erzählt Thöni, sei sein Großvater in den 30er Jahren Ski gefahren. Natürlich ohne Skilifte. Damals stiegen die Burschen den Berg hinauf. 1951 war nicht nur das Geburtsjahr des kleinen Gustav, sondern auch des Skitourismus in Trafoi. Ein Lift wurde gebaut. Sulden bekam erst sieben Jahre später einen. Ein Jahrzehnt war Trafoi ein Spitzenort für Skifahrer. Den ersten Tourismusboom hatte 1820 die Stilfserjoch-Straße gebracht. Hotels wie das „Bella Vista“ der Familie Thöni und sogar ein Nobelhotel waren entstanden, nun kamen Pensionen und weitere Hotels dazu. Aber das war’s dann.

Es gibt nur wenige Trafoier, die das heute als ein Glück begreifen oder es wenigstens pragmatisch sehen, wie Stephan Gander, Thönis Schwiegersohn, der mit seiner Familie das Hotel führt. Da Sulden Trafoi den Rang als berühmtes Skigebiet längst abgelaufen hat, will er anderes anbieten. Nach dem Abendessen zieht er mit den Gästen auf Schneeschuhen los.

Ungewohnt ist es für Städter, durch die Nacht zu gehen, unter Bäumen statt unter Straßenlaternen. Die Versuchung ist groß, die Stirnlampen einzuschalten. Doch dann entgeht einem der zarte Widerschein der Sterne auf den Schneekristallen. Eine gute Stunde führt Gander seine Gäste bis zu einem Aussichtsplatz. Stille. Gander hat Tee dabei. Und einen Schluck Grappa. Unten leuchten die warmen Lichter aus den Fenstern der zwei Dutzend Häuser von Trafoi, heimelig sieht das aus, von draußen in der Nacht. Kein Auto fährt, wohin auch. Immer mehr Gäste würden sich für diese Schneeschuhwanderungen anmelden, sagt Gander. Vielleicht, weil sie intensiver Natur vermitteln als ein ganzer Tag auf der Skipiste.

„Auf Skipisten geh ich überhaupt nicht mehr“, sagt Ernst Reinstadler. Da schnürt der Bergführer lieber mit Skiern bergauf, weit weg vom Trubel. Sein heller grauer Schnauzbart zeichnet dem 61-Jährigen einen schmalen Querbalken ins Gesicht, und damit sieht er immer aus, als schmunzle er. Die Berge rundherum kennt Reinstadler gut, nicht nur als Bergführer. Er erzählt davon, wie hier gewildert wurde, mit Flinten, die man sich illegal in der nahen Schweiz besorgen konnte. Ob er denn auch so eine Flinte im Schrank habe? Da lacht er nur, erzählt vom Zigarettenschmuggel, der bis in die 70er Jahre lukrativ war: „An einem Samstag habe ich mehr verdient als die ganze Woche beim Arbeiten.“ Mit Rucksäcken haben sie bis zu 40 Kilo über die Berge geschleppt, erst die Beute im Wald versteckt, später einem Gastwirt verkauft. „Ich würd’s heut wieder machen!“, sagt der Ernst strahlend. Interessant sei es gewesen, abenteuerlich, „man hat immer so unter einer Spannung gelebt“.

Er zeigt auf eine weite Hochfläche mit einer Hochspannungsleitung. Die sei damals gesprengt worden, in den 60er Jahren, als Separatisten die Loslösung Südtirols von Italien erzwingen wollten. Sie verübten Bombenanschläge vor allem gegen Strommasten wie diesen, die die Energie vom Südtiroler Reschen-Stausee nach Mailand transportierten.

Einige Jahre war Reinstadler Wirt auf der Schaubach-Hütte, oberhalb Suldens, jetzt arbeitet er wieder als Maurer und Fliesenleger, er könne nicht immer nur durch die Berge führen, weil man „stuff wird von den Leuten“. Das soll heißen: Er braucht auch mal seine Ruhe. Gäste erzählten oft ihr halbes Leben, etwa bei einer Ausnahmetour wie auf den Ortler. Eine Ausnahme ist es für die anderen, die davon ein Bergsteigerleben lang träumen. Aber Ernst war schon mehr als 900 Mal auf dem Riesen. „Ja, die Gäste sind oft enttäuscht, wenn sie nach ein paar Jahren wiederkommen und ich sie nicht erkenne.“

Windfahnen umwehen den Ortler, dort oben muss es kalt sein. Reinstadler zeigt auf eine Scharte, viel höher gelegen als die Alm. Da oben sei er mit neun Jahren zum ersten Mal gewesen. Der Vater hütete Kühe, na, und in die Schweiz ging er auch. Dann blieb der Junge einige Nächte allein auf der Alm, stieg auch allein ab, nach Hause, um „zwei Flaschen Wein, Brot und Leber vom Metzger“ zu besorgen und dem Vater auf die Hütte zu bringen. Hat er eine harte Kindheit gehabt? „Das würde ich nicht sagen“, sinniert er in die Winterlandschaft. Es habe ja immer genug zu essen gegeben. Aber hat er nie aus Einsamkeit geweint, so als kleiner Kerl allein in den Bergen? „Eigentlich nicht“, sagt Reinstadler, „wir haben ja nichts anderes gekannt.“

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