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Monumental. Die Sperrmauer des Edersees ist – neben dem ausgedehnten Waldgebiet – einer der Anziehungspunkte des Waldecker Landes in Nordhessen.

© Dirk Schmidt

Wandern in Hessen: Das Knistern im Kellerwald

Der ausgedehnte Buchenbestand im Waldecker Land zählt zum Weltnaturerbe. Im Herbst bezaubert ein besonderes Farbenspiel.

Das Laub leuchtet in der Sonne wie ein Meer aus roten Lämpchen. Die Augen können sich gar nicht sattsehen. Dabei ist nur jede tausendste Buche eine Blutbuche. „Sie wird mit rotem Zellsaft geboren“, sagt Ranger Alexander Backhaus. Der Zwei-Meter-Mann führt Wanderer durch den Nationalpark Kellerwald-Edersee, der halb so groß ist wie die Stadt Kassel. Dabei zeigt er, wo der veilchenblaue Wurzelhalsschnellkäfer wohnt und der zwiebeltragende Zahnwurz wächst.

Plötzlich ruft ein Uhu von einer Baumkrone herunter, breitet seine Schwingen aus und fliegt davon. Dann besinnt sich der Wald wieder auf sein leises Herbstknistern. Es ist beruhigend und aufregend zugleich, wenn die Blätter aus den Kronen zu Boden rascheln, so als erzähle Großmutter „Wald“-Geschichten von früher. Vom Vieh unter den Hutebäumen, von der Wolfsgrube am Dreiherrenstein oder vom Gestank der Kellerschuser Rauchhühner. Mit diesem Spitznamen neckten Einheimische die Köhler, die wochenlang im Wald arbeiteten und dort Holzkohle für die Erzschmelze glimmen ließen. Damals nannte man die Gegend „Hessisch Sibirien“, weil sie ganze 160 Kilometer von Darmstadt entfernt liegt und das Klima viel rauer war als in der damaligen Landeshauptstadt.

Der Kellerwald, dessen Name sich nicht von Keller sondern von „Köhler“ ableitet, ist einer der letzten zusammenhängenden großen Buchenwälder in Deutschland und ein Weltnaturerbe. Darüber hinaus wurde er bisher als einziger Nationalpark Deutschlands von der internationalen Vereinigung IUCN (International Union for Conservation of Nature) nach deren strengen Kriterien überprüft und zertifiziert. Hier sind nicht nur Hainbuche und Rotbuche zu Hause, sondern auch seltene Farne, Fledermäuse und Feuersalamander. Wildkatzen und Waschbären streifen nachts durchs Gebüsch.

In der Kernzone überlässt man die Natur sich selbst. Umgefallene Bäume werden nur aus dem Weg geräumt, wenn sie Menschen gefährden könnten. Alexander war früher Waldarbeiter. Nun hat er eine Kehrtwende im Job gemacht. „Das war für mich unerledigte Arbeit“, sagt er und zeigt auf einen umgestürzten Baum, an dem der „ästige Stachelbart“ wuchert wie ein Blumenkohl. Jetzt freut er sich, dass seltene Urwaldpilze daran wachsen.

Wattwandern im Edersee

Tagelang kann man auf dem 155 Kilometer langen Kellerwaldsteig oder dem halb so langen Urwaldsteig wandern und kommt dabei selten an einer Straße vorbei. Man läuft auf breiten Wegen oder verwunschenen Pfaden hügelauf und hügelab. Menschen begegnet man kaum. Stattdessen hört man einen Hirsch rülpsen. Während der Brunst verteidigt er mit dem Geräusch seine Weibchen. Immer wieder öffnet der Wald seinen Vorhang und gibt den Blick auf den Edersee frei, der sich am nördlichen Rand des Nationalparks wie eine Schlange windet. Wer abends an seinem Ufer steht, kommt sich vor wie in der kanadischen Wildnis. Spiegelglatt ist das Wasser. Aus der Dunkelheit dringt das Geheul von Wölfen aus dem nahen Tierpark herüber.

Hutebuche
Hutebuche

© Delpho, picture alliance

Ungewöhnlich ist der lange Weg vom Ufer zum See: 50 Meter verläuft er über schlammigen Boden bis zum Wasser. „An der Nordsee gibt es zweimal am Tag Ebbe. Wir haben das einmal im Jahr“, sagt Michaela Wiesemann lachend. Sie führt gemeinsam mit Mann und Sohn ein kleines Hotel am Waldrand. Im Herbst werden große Mengen Wasser in die Weser und in den Mittellandkanal abgelassen, um die beiden Flüsse schiffbar zu halten. Frau Wiesemann zeigt auf die Fotos im Flur: „Für den Bau des Stausees vor knapp 100 Jahren hat man drei Dörfer samt Einwohnern evakuiert.“

Manche Tourismusbetriebe ärgert der halbvolle See, andere entwickeln daraus neue Programme wie das Wattwandern im Edersee. Rita Wilhelmi führt Besucher mit wetterfester Kleidung auf den Seegrund. Unter den Gummistiefeln quatscht der Schlick. Sie deutet auf Pflanzen, die nur um diese Zeit hier wachsen wie Gilb- und Blutweiderich, Wiesenalant und Zweizahn. Später verteilt sie historische Lagepläne von Alt-Asel, eine der versunkenen Städte, deren Häuserreste noch erkennbar sind.

Wer Glück hat, sieht bei Alt-Berich auch ein Modell der Sperrmauer, das einst auf dem Seegrund gebaut wurde. Es fällt nur etwa alle zehn Jahre trocken. Die Austrocknung hat auch kulinarische Vorteile: „Der Fisch schmeckt danach besser, weil sich das Wasser regeneriert hat“, sagt Herr Wiesemann. In der Küche bereitet er gemeinsam mit dem Sohn Barsche und Zander für die Gäste zu. In der Freizeit wandert die Familie gern durch den Kellerwald. Besonders mögen sie den Quernstgrund bei Frankenau. Auf einer Anhöhe blickt man weit über die bewaldeten Hügel. In vorchristlicher Zeit soll hier eine heidnische Kultstelle gewesen sein, und im Zuge der Christianisierung entstand dort eine der ersten Kirchen. Heute erinnert eine kleine Kapelle an diese Zeit. Davor grasen ein paar Heidschnucken, sie verhindern die Zuwucherung des Hügels.

Wer dem Weg weiter folgt, stößt auf den ältesten Teil des Kellerwaldes. Das Gebiet „Ruhlauber“ war 1990 das erste Naturschutzgebiet Hessens. Hier ragen 200 Jahre alte Buchen mit gewaltigen Kronen in den Himmel. Ihr Lebensalter haben sie noch lange nicht erreicht. Womöglich lassen sie noch in 100 Jahren im Herbst ihre rot gefärbten Blätter knistern.

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