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Panorama: Sábado Santo (Glosse)

Coroatá, im knochentrockenen Nordosten Brasiliens. Das vergessene Ende der Welt.

Coroatá, im knochentrockenen Nordosten Brasiliens. Das vergessene Ende der Welt. Ein 20 000-Einwohner-Kaff. In der Mitte der Hauptstraße Blumenbeete vom letzten Wahlkampf des Bürgermeisters; eine leere Schule. Per Eselskarren reist eine Satellitenschüssel in den Busch. Karsamstagmittag. Gestern ging die Sandalenfilm-Prozession durch den Ort, im Kirchhof wurde Jesus dramatisch gekreuzigt. Heute flüchtet alles in den Schatten. Über den Platz stapft eine seltsame Kapelle. Verknitterte Männer. Trompeten, Tuba, Klarinette, Trommel. Hinter ihnen ein Wagen, darauf eine schwarze Puppe, mit Hut und Schnapsflasche, Zigarrette im Mund. Judas, der Verräter. Ein Schwarzer. Die paffende Buhmann-Figur steht so auch - als Fetisch der regionalen Mischreligion - an manchen Marktständen des Nordostens herum. Heute, am Sábado Santo, fährt Judas durch die Straßen. Damals, als Jesus tot war, hat er sich verzweifelt erhängt. Sind Coroatás Musikanten auf seiner Seite? Verhöhnen sie ihn? Die Band schrummt und swingt, in ihrem melancholischen Rumtata klingen Europas Bierzelte und Lousianas Beerdigungen, in der Endlosschleife des schleppenden Jazz-Rituals hallt die Frömmigkeit Afrikas. Der Zug durchwandert die Gassen, ein paar Kleine und Große trotten mit. Er biegt in einen Hof, verschwindet in jenem Viertel, aus dem zur Vollmondnacht die Macumbas dröhnen werden: Totenbeschwörung für die großen Götter Afrikas.

Karsamstag ist die rätselhafteste Station des Kirchenjahres. Schon früh haben Theologen spekuliert, was eigentlich mit Jesus zwischen seinem Tod und Ostern passiert sein mag. Im Neuen Testament heißt es, der Messias habe vor der Auferstehung den "Geistern im Kerker" gepredigt, unter anderem Adam und Eva. "Niedergefahren zur Hölle" formuliert ein altes Credo. Gottes Sohn persönlich betritt das Reich der Finsternis, proklamiert am ausweglosen Ort die Triumph-Botschaft "Liebe ist stärker als der Tod" - so sieht seine Mission vom Himmel aus. Unser Jahrhundert indes bevorzugt die menschennahe Deutung: den Gott-ist-tot-Karsamstag der Moderne, als Sackgasse aller Verzweifelten, Sinnsucher und Utopisten. Die Passionserzählung des ersten Evangelisten endet mit dem Machtgestus des Staates und seiner Bürokraten, mit der Schließung der Akte: "Sie gingen hin und verwahrten das Grab mit Hütern", übersetzt Luther, "und versiegelten den Stein". Normative Kraft des Faktischen, Sieg der Resignation. Karsamstag heißt: Es bleibt, wie es ist.

Am 22. April 1500 landeten die ersten Portugiesen an der Küste der Pataxó-Indios: zufällig, sie wollten eigentlich nach Südindien. Brasiliens 970 Völker waren gar nicht gemeint. Für den Ausbau einer gigantischen Exportlandwirtschaft deportierte die Kolonialmacht Millionen von Sklaven aus Afrika. Heute gilt das größte, kulturell vielfältigste, wirtschaftsmächtigste Land des Subkontinents extern als harmonischer Schmelztiegel, doch intern ist Brasilien nach Hautfarbe und Überlebensstandard krass geteilt, wie der Rest der Welt. Rassismus, Landraub, Verschuldungskrise, Identitätentaumel: Der Anschluß des Landes an die Neuzeit des Westens und das Christentum haben ihm kein Glück gebracht. Vor 500 Jahren gab es fünf Millionen Ureinwohner, heute sind es 325 000. Die Botschaft jener Liebe, die stärker sein soll als der Tod - weil sie den meint, den sie anspricht -, hat nicht funktioniert; die Brasilianer waren ja nie gemeint. Palmares, ihre utopische Republik der entflohenen Sklaven, scheiterte; die vom Papst verworfene, aus Europa importierte Befreiungstheologie der Sozialrevolution ebenfalls. Auch Judas, der lieber einen Politmessias gehabt hätte, war ein Befreiungstheologe - ein schnell verzweifelter. Die Brasilianer sind lange geduldig gewesen; der Welt zeigen sie, nicht nur als Erfinder groovender Musiktrends, das Image vitaler Fröhlichkeit, doch Verzweiflungsgründe hätten sie genug.

Karsamstag forever: Muß alles bleiben, wie es ist? Brasilianischer Widerstand gegen Menschenrechtsverletzungen wächst. Die Kirche stellt sich zu den Entrechteten. Hundertausend sind gegen die Wirtschaftspolitik nach Brasilia marschiert. "Wem gehört das Land?" heißt hierzulande das Thema der Geburtstagsveranstaltungen. Während im Börsen-Casino der global players täglich das Bruttosozialprodukt ganzer Völker verdampft, feiern die Ahnenbeschwörer am Ende der Welt das Sozialsystem der Abstammung, den Generationenvertrag der Erinnerung, die Unterwelt der Moderne. Nun, Afrika geht bereits zum Teufel - welcher Kontinent wird der nächste sein? Felicitação, Brasil, wir sehen uns: Zur Hölle fährt kein Erdteil allein.

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