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Panorama: Schreie unter Schutt

Mehr als 30000 Menschen sollen durch das große Erdbeben getötet worden sein – alleine in Pakistan. Eine Region ist verwüstet

Die Helfer haben die ganze Nacht im Licht von Scheinwerfern durchgearbeitet, Regen erschwert ihre Arbeit. Aber sie wollen nicht aufgeben. Immer wieder horchen sie nach Schreien von Verschütteten, tragen mit bloßen Händen oder Schaufeln Steine und Schutt ab. Kräne und Raupen schieben größere Zementblöcke und Schutthaufen beiseite. 90 Menschen konnten sie hier lebend und zehn tot bergen.

Doch als der Morgen graut, werden noch immer 100 Menschen unter den Trümmern vermutet. Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit, mit jeder Minute schwindet die Hoffnung, dass die Verschütteten noch leben. Ein Polizist sagt: „Die Schreie der Eingeschlossenen verfolgen mich.“

Noch vor kurzem stand hier der zwölfstöckige Appartementkomplex Margala Towers, in einem der vornehmeren Viertel von Pakistans Hauptstadt Islamabad. Unter der Wucht der Erdstöße ist er eingestürzt. Hunderte Menschen haben sich vor den Trümmern versammelt, verfolgen die Rettungsarbeiten. Auf den Straßen beten Menschen mit zum Himmel geöffneten Händen. „Warum?“, scheinen sie zu fragen. „Warum?“

Eine Region steht am Abgrund. Die Fernsehbilder, die in Pakistan und Indien ununterbrochen gezeigt werden, lassen eine Katastrophe großen Ausmaßes vermuten. 30000 Todesopfer soll es geben – alleine in Pakistan. Eine riesige Region ist verwüstet worden. Städte und Dörfer sind vollkommen zerstört. Viele Dörfer und selbst kleine Städte seien regelrecht von der Landkarte verschwunden, sagte der Sprecher des pakistanischen Präsidenten Pervez Musharraf, Generalmajor Schaukat Sultan. Das ganze Ausmaß war auch am Sonntag noch nicht abzuschätzen, weil die Kommunikationsnetze zusammengebrochen sind.

Schluchzend bricht ein Mann in den Armen eines Helfers zusammen, als Rettungskräfte eine Tote bergen. Eine Mutter hält ihren bewusstlosen Sohn. Sein Kopf ist bandagiert, die Oberlippe blutig, das eine Auge blau zugeschwollen. „Meine Freunde sind noch dort drin“, schreit eine Frau. „Und es sind Kinder dabei. Wenn es Luftlöcher in dem Haufen gibt, könnten sie noch am Leben sein.“ Auf Bahren kämpfen Verletzte ums Überleben.

Das Beben traf die Menschen völlig unvorbereitet. Viele Bewohner der Margala Towers schliefen noch, als am Samstagmorgen um 8 Uhr 50 Ortszeit die Erde bebte. Hilflos musste Sajida Burki, eine Nachbarin, mit ansehen, wie sie in den Tod gingen. „Menschen rannten auf die Balkone. Aber während es noch bebte, brach das Gebäude bereits zusammen und die Menschen stürzten mit den Zementmassen nach unten.“ Naumann Ali hatte Glück, er kam mit dem Leben davon. „Es war die Hölle, schrecklich“, sagt er. „Ich wurde in meinem Bett hin- und hergeschleudert, der Ventilator schlug gegen die Decke.“

„Deathquake“ ,Todesbeben, titeln die indischen Zeitungen am Sonntag. Die Katastrophe weckt Erinnerungen an das Erdbeben im indischen Gujarat 2001 mit fast 20000 Toten und das Seebeben in Asien im Dezember 2004 mit über 200000 Toten. Auch diesmal wird das Ausmaß der Tragödie erst nach und nach offenbar, klettern die Todeszahlen Stunde um Stunde immer höher.

Quer über den südasiatischen Kontinent hat das Erdbeben der Stärke 7,6 Städte und Dörfer erschüttert und Millionen Menschen in Panik versetzt. Die Erdstöße wurden auch in Neu-Delhi, Kabul, ja, sogar in der Hauptstadt von Bangladesch, Dhaka, registriert.

Am schlimmsten traf es jedoch das bitterarme Pakistan. Es ist schwer, zu den Dörfern zu gelangen. Und noch schwerer, Hilfe dorthin zu bringen. Viele Regionen sind abgeschnitten, Straßen durch Erdrutsche blockiert, Telefonleitungen gekappt, das Handy-Netz ist überlastet. Per Hubschrauber werden Soldaten und Retter in die Regionen geflogen. Ihnen bietet sich ein Bild der Zerstörung. Vor allem im Norden Pakistans, in Kaschmir, sind ganze Dörfer dem Erdboden gleichgemacht. Dort, in der Bergregion 95 Kilometer von der pakistanischen Hauptstadt Islamabad, lag das Zentrum des Bebens. Entlang der so genannten Kontrolllinie, die den indischen und pakistanischen Teil Kaschmirs trennt, hinterließ es eine Schneise der Verwüstung. Jahrzehntelang haben die Menschen hier unter dem Konflikt zwischen Indien und Pakistan gelitten, gehörten Feuergefechte und Granatendonner für sie zum Alltag. Erst seit November 2003 herrscht ein Waffenstillstand zwischen Indien und Pakistan. Nun trifft die Menschen neues Leid.

Viele Kinder waren zur Zeit der Katastrophe in der Schule. Im Distrikt Mansehra im Nordwesten Pakistans wurden mehr als 400 Kinder getötet, als zwei Schulen einstürzten. Der Kaufmann Haji Fazal Ilahi aus Mansehra verlor seine Frau, zwei Töchter und einen Bruder, als das Haus der Familie zusammenbrach. „Ich sah, wie Felsen und Häuser die Berge runterrollten.“

Doch es bleibt kaum Zeit zum Trauern. Die Überlebenden und Verletzten brauchen dringend Hilfe. Viele Menschen sind obdachlos, warten auf Zelte, Decken und Nahrung. Die kalte Jahreszeit naht. Viele Krankenhäuser sind völlig überlastet, andere sogar einsturzgefährdet, Menschen liegen auf Notbetten im Freien und schreien nach Hilfe.

Das Militär spricht bereits von der größten Hilfsoperation seit der Gründung Pakistans im Jahr 1947. Vielerorts werden die Rettungsarbeiten durch Kälte und Regen behindert. Menschen klagen, dass Hilfe und Rettungsgerät nur schleppend kommen. Auch Pakistans Präsident Pervez Musharraf weiß, dass sein Land gegen eine solche Tragödie kaum gewappnet ist. „Wir werden alle auf die Probe gestellt. Ich werde auf die Probe gestellt, der Ministerpräsident, die Regierung und die ganze Nation“, sagte er.

Christine Möllhoff[Neu-Delhi]

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