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Panorama: Schwestermord

Eine 16-jährige Türkin wird von ihrem Bruder erschossen, weil sie nach einer Vergewaltigung ein Kind geboren hat

Als Naile Erdas ihre Schwangerschaft bemerkte, wusste sie, dass sie ihres Lebens nicht mehr sicher war. Neun Monate lang behielt das 16-jährige Mädchen im Südosten der Türkei ihr Geheimnis für sich. Dabei war Naile vergewaltigt worden – im Verdacht steht ein Nachbar der Familie. Aber das Mädchen wusste, dass sie nach den unerbittlichen Gesetzen der „Familienehre“ kein Opfer war, sondern Schande über ihre Sippe gebracht hatte. Deshalb versteckte Naile ihren wachsenden Bauch unter weiten Pullovern, bis sie vergangene Woche ins Krankenhaus ging. Sie habe Bauchschmerzen und Kopfweh, sagte sie ihrem Bruder, der sie in die Klinik begleitete. Wenige Tage später brachte Naile einen kleinen Jungen zur Welt. Das war ihr Todesurteil.

Die Ärzte im staatlichen Krankenhaus in der Kleinstadt Baskale im hintersten Osten Anatoliens erkannten, in welcher Gefahr das Mädchen schwebte. Die Ärzte verständigten die Polizei, die einige Beamte abstellte, um Naile im Krankenhaus zu bewachen, wie die Zeitung „Radikal“ berichtete. Schließlich ist es schon vorgekommen, dass Patientinnen von ihren Familien im Krankenbett getötet wurden.

Doch der Schutz der Behörden für Naile endete mit ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus. Das Mädchen ging mit ihrem Baby nach Hause und beichtete ihrer Mutter, was geschehen war. Nachdem die Mutter dem Rest der Familie die Neuigkeit überbracht hatte, dauerte es nicht lange, bis sich Nailes um ein Jahr älterer Bruder Bahri eine Pistole nahm. Bahri bat seine Schwester, mit ihm spazieren zu gehen. Wenige Schritte vor dem Haus tötet er Naile mit vier Schüssen. Der Junge machte sich aus dem Staub und wird jetzt von der Polizei gesucht.

Bei vielen „Ehrenverbrechen“ werden minderjährige Brüder oder Söhne der Opfer als Täter ausgesucht, weil sie bei einer Verurteilung auf mildere Strafen hoffen können als die Väter. In Nailes Fall wollen sich die Behörden damit nicht abfinden. Nailes Vater und zwei Onkel kamen in Untersuchungshaft, weil sie den Mord an dem Mädchen im „Familienrat“ beschlossen und Bahri die Ausführung der Tat aufgetragen haben sollen. Ihnen drohen nun lange Haftstrafen. Zudem soll ein Vaterschaftstest klären, ob der als Vergewaltiger verdächtigte Nachbar der Vater von Nailes Kind ist.

Für Naile kommt das jedoch zu spät. Obwohl die Türkei im Rahmen ihrer EU-Bewerbung die früher bestehenden Strafnachlässe für „Ehrenmorde“ abgeschafft hat, ist diese Art von Verbrechen nicht zu stoppen. Nach Statistiken türkischer Zeitungen werden in der Türkei jedes Jahr rund 200 Menschen im Namen der Familienehre getötet, die allermeisten Opfer sind Frauen. Wie im Fall der jungen Naile trifft die Behörden häufig eine Mitschuld, weil sie nicht genug tun, um die Opfer zu schützen. Frauenhäuser gibt es nur wenige in der Türkei.

Die Macht der Tradition ist so groß, dass schon ein Gerücht genügt, um Frauen zum Tode zu verurteilen. In einem Landkreis bei Sanliurfa, ebenfalls im Südosten der Türkei, tötete ein Mann kürzlich seine 33-jährige Tochter, eine verheiratete Mutter von zwei Kindern. Das Motiv für den Mord war bloßes Gerede: Die Frau sei auf die schiefe Bahn geraten, erzählten sich die Leute. Zeitungsberichten zufolge hatte der Ehemann des Opfers das Gerücht gestreut, um von seiner eigenen außerehelichen Affäre abzulenken. Ihm geschah selbstverständlich nichts.

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