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Panorama: Stadt, Land, Flucht

In Paris wird Wohnen zum Luxus: In den vergangenen sechs Jahren sind die Immobilienpreise um 70 Prozent gestiegen

Wenn die frühere Krankenschwester Agnès heute ihre Wohnung im 19. Pariser Arrondissement verlässt, lebt sie mit einer ständigen Angst: Der Gerichtsvollzieher könnte ihr Zwei-Zimmer-Appartement inzwischen verriegelt haben und sie stünde auf der Straße – mit den vielen anderen, wie Gérard, Odile, Michel oder Raymond, die sich zum Schlafen entweder in Abrisshäuser verkriechen, im nahe gelegenen U-Bahnhof Pyrénées Unterschlupf finden oder die Nacht im Windschutz eines Ladeneingangs in der Avenue Simon Bolivar verbringen.

Ironie des Schicksals: Die meisten Geschäfte in der Straße sind Immobilienagenturen. In den Schaufenstern werden mit Hochglanzfotos sündhaft teure Eigentumswohnungen angepriesen. Unter 100 000 Euro ist selbst eine Einzimmerwohnung nicht zu haben. In den vergangenen sechs Jahren sind die Preise für Wohnungen in Paris um 70 Prozent gestiegen, der durchschnittliche Quadratmeterpreis liegt heute bei 3850 Euro. Mietwohnungen offeriert der Markt nahezu gar nicht. Als Agnès vor sechs Jahren eine Zwei-Zimmer-Wohnung mit 45 Quadratmetern bezog, zahlte sie 600 Euro Miete. Inzwischen sind es 800 Euro. Dann wurde die 45-Jährige arbeitslos, später Sozialhilfeempfängerin. Selbst mit finanzieller staatlicher Hilfe kann die Frau ihre Wohnungsmiete seit mehr als zwei Jahren nicht mehr bezahlen. Sie lebt inzwischen unter der Armutsgrenze. Spätestens Ende April wird sie vor die Türe gesetzt und weil alleine im Großraum Paris rund 330 000 Sozialwohnungen fehlen, sind die Chancen auf eine preiswerte Unterkunft minimal. Im vergangenen Jahr wurden in der französischen Hauptstadt nur 13 000 Sozialwohnungen gebaut, die Wartezeiten liegen bei acht Jahren. Einziger Ausweg für die Betroffenen: Die Straße, ein Abbruchhaus oder ein billiges Zimmer in einem der zahlreichen heruntergekommenen Hotels, wo viele kinderreiche Einwandererfamilien unter extremen Bedingungen leben. Die Wohnungsmisere in Paris trifft nicht nur die Armen. Selbst für Durchschnittsverdiener ist es inzwischen fast unmöglich geworden, ein Appartement in der Innenstadt zu kaufen. Die Zeitung „Libération“ rechnete vor, mit einem Budget von 300 000 Euro , etwa 14 durchschnittliche Jahresgehälter, seien keine „großen Sprünge“ möglich. In einem der schicksten Stadtviertel, Saint-Germain-des-Prés, dem früheren Quartier Latin, wird zu diesem Preis eine Mini-Wohnung mit zwei Zimmern (40 Quadratmeter) im sechsten Stock angeboten, ohne Bad und Aufzug. Zum selben Preis sind weit weg vom Zentrum im weniger schönen Osten der prachtvollen Metropole 60-Quadratmeter-Unterkünfte in hässlichen 50er-Jahre- Hochhäusern zu haben, mit Blick auf brachliegende Industriegelände und Schnellstraßen, hohe Kriminalitätsraten inklusive. Den meisten Familien bleibt heute nichts anderes übrig, als in die Pariser Vorstadtgürtel oder in die an Paris angrenzenden Departements abzuwandern. Dort, bis zu fünfzig Kilometer vom Stadtzentrum entfernt, ist mit viel Glück für 300 000 Euro sogar ein Haus zu bekommen.

Der Käufer muss dann aber lange, anstrengende Wege bis zum Arbeitsplatz in Paris in Kauf nehmen. Schon heute warnen Soziologen vor dem neuen Trend: „Wenn die Immobilienpreise weiter steigen, wird Paris allmählich eine Art Ghetto für Reiche“, warnt die Sozialforscherin Claude Saulnier und spricht von „sozialem Ausbluten“. Arbeiter und „normale“ Angestellte würden immer mehr aus der Stadt gedrängt, „von 100 Immobilien-Transaktionen werden nur zwei von Arbeitern getätigt, über die Hälfte von gut verdienenden Beamten.“ Die düstere Entwicklung auf dem Immobilienmarkt zeigt bereits erste Nebenwirkungen: Ausgerechnet in der Stadt, die für ihren quirrligen Einzelhandel mit tausenden von Tante-Emma-Läden und Spezialgeschäften so bekannt ist, machen immer mehr kleine Geschäfte zu. In den vergangenen zehn Jahren, so die Statistik, sind 84 Prozent der kleinen Lebensmittel-Krämer-Läden aus dem Stadtbild verschwunden und fast die Hälfte der Fleischereien und Bäckereien.

Von der Tatsache, dass die Masse der Pariser nicht mehr in Paris lebt, profitieren die großen Supermarktketten wie Auchan, Carrefour oder Leclerc, die sich in den Vorstädten niederlassen. „Paris ist auf dem besten Weg, sein Flair zu verlieren und zu einer toten Museumsstadt für Touristen zu werden“, befürchtet Saulnier. Der Käsefachhändler an der Ecke, der Fischspezialist und der Chocolatier gehören dann bald ebenso zu den Pariser Sehenswürdigkeiten wie der Louvre und der Eiffelturm.

Sabine Heimgärtner[Paris]

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