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Thailand

© dpa

Thailand: Trümmer der Erinnerung

Er hat seine Frau verloren, damals in Thailand, an jenem schrecklichen 26. Dezember 2004. Zu einer der Trauerfeiern, die jetzt überall stattfinden, geht er aber nicht. Er will allein sein. Auch vielen anderen ist nicht wohl beim Gedanken ans Gedenken. Sie schauen nach vorne

Die Palmen zeichnen lange Bilderbuchschatten in den Sand, leise rollen kleine Wellen mit weißen Kronen an den Strand, ein Fischerboot mit Baldachin zieht vorbei, cremefarbene Handtücher auf Designerliegen warten auf die Gäste, die noch beim Frühstück sitzen. Es sind schon fast 30 Grad. Ein paradiesisch anmutender Morgen. Khao Lak im Dezember 2009. So muss es auch vor fünf Jahren gewesen sein, als am 26. Dezember der Tsunami den thailändischen Urlaubsort verwüstete.

230 000 Menschenleben verschlang die Killerwelle am zweiten Weihnachtstag rund um den Indischen Ozean, eine der größten Naturkatastrophen, die es je gab. Allein an den Stränden im Süden Thailands zählten die UN 5395 Tote, davon fast zweieinhalbtausend Ausländer, Schätzungen sprachen sogar von rund 8000 Toten. Das Bundeskriminalamt startete seine größte und längste Identifizierungsaktion und zählte schließlich 552 deutsche Opfer. In Khao Lak fand das Wasser besonders viele Opfer.

Dieser verdammte Stacheldraht. „Da habe ich sie nicht drübergekriegt, da habe ich sie nicht durchgekriegt.“ Horst Stahl steht im Palmenmeer vor einem rostigen Zaun. Der tiefbraun gebrannte 63-Jährige will gelassen wirken. Aber er redet jetzt sehr schnell und wiederholt den Satz mehrmals. Sie, das ist seine Frau Gabriele. Mit ihr saß er damals in einem Bungalow des Lah-Own-Resorts, als seine Frau meinte, die Wände vibrierten. „Ich hab noch zu ihr gesagt, das sind die Laster oben auf der Straße.“ Aber dann hat er aus dem Erkerfenster geguckt, „eine Riesenfontäne“ kam angeschossen. Er hat Gabi rausgehetzt, die Wände der Zimmer flogen hinter ihnen her, Stacheldraht war im Weg. Er hetzt Gabi weiter, die Treppe am Nachbarbungalow hoch. „Dann brach das Geländer, ich sagte: spring.“ Sie sprang, riss sich ein Loch in den Fuß. „Ich hinterher, dann hab ich dreimal Wasser gezogen. Ich wusste, ich sterbe, hatte keine Luft mehr.“ Und dann sagt er so seltsame Sätze wie: „Es war ein absolut geiles Gefühl zu sterben.“ Was passiert in Ausnahmesituationen mit Menschen?

Irgendwie hat er dann eine Liane erwischt, sich daran geklammert. „Schlangen, Schildkröten, überall krabbelte es und wimmelte von Leichen. Ein blondes Kind schwamm vorbei mit großen Augen. Dann dreht es sich auf den Rücken, so einen Pflock hatte es im Bauch, das war ein schwedisches Mädchen aus dem Nachbarhotel.“ Er redet immer schneller. „Ich hab nix begriffen, aber ich hab gedacht, hier musste weg.“ Seiner Frau hat er zugebrüllt, sie solle hoch in einen Baum, „aber sie hatte kaum mehr Kraft“. Sie hat dann eine Matratze erwischt, die angeschwommen kam. „Ich hab sie rauf zur Straße getragen, im Khao Lak Seafood hat uns der Besitzer geholfen. Danach waren wir vier Wochen im Krankenhaus in Phuket“, seine Frau anschließend noch in Ludwigshafen in der Klinik. Aber die Wunde heilte nicht. „Wegen der Kloake“, glaubt Horst Stahl und zeigt aufs Meer. Zehnmal sei seine Frau operiert worden, geholfen habe es am Ende nichts, sagt er. Die Wunde sei immer weiter gefault.

Im Oktober sind die beiden von Deutschland wieder nach Khao Lak gefahren, wie jedes Jahr über den Winter. Am 1. April flogen sie zurück. Drei Tage später brach seine Frau zusammen, Hirninfarkt. „Am 6. hab ich die Maschinen abstellen lassen. Zum Glück hatte sie eine Patientenverfügung.“ 56 ist sie geworden. Er ist überzeugt, schuld war der faulende Fuß.

Kann das alles wahr sein? Khao Lak zieht viele schillernde Menschen an. „Der Horst“, wie er sich selbst nennt, gefällt sich in der Rolle des skurrilen Witwers mit nicht ganz eindeutiger Vergangenheit. Buchhalter habe er gelernt, sei aber mit 20 nach Australien ausgewandert. Jäger, Goldsucher, Opalminenbesitzer, Edelsteinhändler. Nicht zuletzt über Geschäfte mit Schmuck sei er zu Geld gekommen, zu genau will er darüber nicht reden. Später machte er in Häusern, eine Art Bauunternehmer. Seine Frau arbeitete bei einer großen Versicherung.

Doch ganz so lässig, wie er sich gibt, hat der gebürtige Koblenzer das Desaster nicht weggesteckt. Mit einem Psychologen wollte er nicht reden, das kam für den stolzen Kerl nicht infrage. „Das ist gut verschlossen, da drin“, er deutet auf seinen Brustkorb. Inzwischen hat er eine 25-jährige Philippinin an seiner Seite („Das habe ich in ihren letzten sechs Monaten auf langen Spaziergängen hier am Strand mit meiner Frau so besprochen“). Allein sein, das kann er nicht.

Über den Tsunami, sagt er, redet er eigentlich nicht mehr, nicht mit Freunden und nicht mit Melinda, der jungen Frau auf Probe. „Die kriegt dann nur Angst.“ Doch der Verschluss auf der Flasche der Erinnerungen hält nicht mehr. „Dieser Deckel geht immer öfter auf“, sagt er mit einem Mal. „Ohne Tabletten geht nichts mehr. Da kann ich nachts nicht schlafen.“ Auch wenn er sich wieder in Khao Lak eingemietet hat und jeden Morgen seine Liege am Strand bezieht, dem Frieden am Wasser traut er nicht mehr. Immer wieder zieht es ihn an sein Notebook, dann checkt er den Global Seismic Monitor des deutschen Geoforschungszentrums in Potsdam.

Auch für die Nächte hat er vorgesorgt. Er schläft nicht mehr in Bungalows am Strand. Diesmal logiert er im soeben eröffneten JW Marriott, Fünf-Sterne-Designerluxus am Khuk Khak Beach zum Einführungspreis („Ich lebe hier eigentlich etwas über meine Verhältnisse“) – in einem Zimmer im oberen Stock.

Das Hotel bietet allerlei Sicherheitsmaßnahmen, die die Gäste nicht bemerken sollen – denn „hier ist Urlaub“, wie Sales Manager Roger Parnow sagt. Im Falle eines Falles komme eine Warnung über ein GPS-gestütztes System, die in mehreren Sprachen an die Gäste weitergegeben werde. Lautsprecher gibt es unter fast jeder Palme auf dem weitläufigen Gelände des Resorts mit 298 Zimmern und einem gigantischen Pool von drei Kilometern Länge. Die Lautsprecher sind im Dauertest, aus ihnen plätschert stets und ständig Hintergrundmusik.

Demnächst soll es auch im Hotel Tsunami-Evakuierungsübungen geben. Überall in Khao Lak ist mit weiß-blauen Schildern die Tsunami Evacuation Route ausgeschildert. Sie führt in die Berge im Hinterland. Fluchtpunkt für Parnows Gäste ist die Lobby auf acht Metern Höhe. „Die Welle damals ist zwei Kilometer landeinwärts gerauscht. Da könnten Sie rennen, so viel Sie wollen, Sie würden nicht überleben.“ Der freundliche blonde Manager in Poloshirt und Anzughose mag das Thema Tsunami allerdings ebenso wenig wie seine thailändischen Kollegen. Sie alle wollen nach vorne schauen, ihre Gäste zu den atemberaubenden Tauchgründen der Similan-Inseln und zum Elefantentrekking bringen. Aber sie wissen auch, dass am Samstag die grausamen Bilder von damals wieder allgegenwärtig sein werden.

Das JW Marriott, das „das beste Hotel Asiens“ werden will, trägt noch dazu ein besonderes Erbe. 2004 stand an diesem Ort das Sofitel Magic Lagoon. Als die Wasserwand das Paradies begrub, verloren mehrere hundert Urlauber und Angestellte ihr Leben, die Anlage bekam den Beinamen „Todeshotel der Deutschen“. Lange blieb das Trümmerfeld eine Schlangengrube. Jetzt soll Khao Lak das Flaggschiff der Lifestyle-Marke JW Marriott werden. „Wir haben mit dem deutsch-türkischen Besitzer einen 45-Jahres-Vertrag geschlossen“, sagt Parnow. Am Samstag soll es eine interne Gedenkzeremonie geben, die Mitarbeiter werden schwarze Armbinden tragen.

Mit dem Gedenken zum fünften Jahrestag der Katastrophe ist das in Khao Lak so eine Sache. Mögen auch Angehörige von Opfern aus aller Welt anreisen – den Hoteliers und vielen Thais ist nicht wohl bei dem Gedanken ans Gedenken. Wen man in diesen Tagen danach fragt, der wird recht wortkarg. Die meisten wollen den Katastrophentag vor fünf Jahren am liebsten vergessen.

Pisit Hiranpiwong, Brille und Bermudas, ist Architekt und Manager des Lah-Own, der ehemaligen Stammbleibe von „Mr. Horst“ und seiner Frau. Der 37-Jährige baut das Resort ohne Bankkredite wieder auf, das dauert. Im nächsten Oktober soll es endlich wieder losgehen. Noch durchziehen Gräben und Hügel die Anlage, gerade werden Elektrokabel in blauen Kunststoffrohren verlegt. Vorsichtig führt er seinen Gast mit der neuen Freundin in eins seiner zweistöckigen Häuschen. „Da oben wäre sie sicher gewesen“, sagt Horst Stahl, „hätte ich das bloß gewusst, dann hätte ich sie da nicht rausgehetzt.“ Dann sagt er, mehr zu sich selbst: „Aber ich musste doch in Sekunden entscheiden.“

Heute liegt schon das auf Stelzen stehende Erdgeschoss der neuen Häuschen des Lah-Own mindestens vier Meter über Meereslevel. „Lass uns pessimistisch sein, damit unsere Gäste in Zukunft sicher sind“, sagt Pisit. Eine eigene Wellen-Wache will er aufstellen, sich nicht auf eine Maschine verlassen wie die Regierung. Auch für sich selbst geht er auf Nummer sicher. Er wird oben im Haus für die Mitarbeiter wohnen, das hat drei Stockwerke.

„Damit das klar ist, ich will der erste Gast sein“, ruft ihm Horst Stahl zu. Im gleichen Bungalow da hinten an der Ecke wie damals. Er zieht Melinda hinter sich her. „Es waren schon sechs, sieben ehemalige Gäste da“, sagt Pisit leise. „Aus der Schweiz und Schweden. Die wollen auch die ersten sein.“ Es hört sich nicht so an, als würde er es wirklich glauben. Und er fügt hinzu: „Wir haben schon mehr Shops als Touristen.“ Gerade hat an der Hauptstraße auch noch ein 24-Stunden-McDonald’s aufgemacht.

Jetzt heißt es erst mal, den Jahrestag hinter sich zu bringen. Orte des Gedenkens gibt es viele. Das Polizeiboot 813 etwa, das einen Enkel des Königs beim Jetski-Spaß schützen sollte und zwei Kilometer landeinwärts gespült wurde; das ohnehin kärgliche International Tsunami Museum gegenüber wird von den Riesen-Bundesliga-Fahnen und der Currywurst-Werbung des Weihenstephaner Biergartens nebenan schier erdrückt.

20 Autominuten weiter in Nan Kem, einem Fischerdorf, das 2004 weitgehend ausgelöscht wurde, liegt ein größeres Tsunami-Memorial: Gepflegte Blumenanlage, eine Welle aus Beton mit eingelassenem Boot symbolisiert den Schrecken, an der Wand der Erinnerung verblassen viele Fotos, die Folien halten dem Klima nicht stand. Timo Wittenbacher aus Baden-Baden, der nur elf wurde, Ludwig Plum und Annette Rauch aus Landau in der Pfalz. Der Mittfünfziger Friedrich Wilhelm Raab aus Gernsheim ist auf dem Bild neben der mit Blümchen gefüllten Vase nicht mehr zu erkennen. Ein paar Schritte weiter lächeln Christian Rainer Bischof und seine blonde Lebensgefährtin unwirklich verträumt von der Wand in die Nachmittagssonne: „Sie starben in Khao Lak. Ein Ort, der für sie das Paradies war.“

Einige Thailänder steigen aus einem Minibus, machen Fotos, stellen ein paar Fragen, fahren wieder ab. Unter einem Baum picknickt ein Pärchen, an steinernen Tischen, wie sie an deutschen Autobahnraststätten stehen, haben sich Gruppen im Schatten niedergelassen und schauen Booten nach, die zum Fischen hinausfahren, hölzerne Klettergerüste für Kinder, ungenutzt. Daneben werden Hefte mit den Bildern des Schreckens verkauft, vor allem aber kitschige Souvenirs. „Ein schöner Aussichtspunkt“, sagt der junge thailändische Fahrer, der die Journalisten hierhergebracht hat.

Wer ein paar hundert Meter weiter die Hauptstraße hoch am 7-Eleven-Supermarkt rechts abbiegt, kommt zum Friedhof für die unidentifizierten Opfer. Dem Fahrer ist es hier nicht geheuer, wegen der Geister. Eine lange, ehemals wohl weiße Mauer, Peitschenlaternen an Betonwegen, das Gras wuchert hoch. Es sieht ein bisschen so aus wie die DDR-Grenzanlagen in Dreilinden ein paar Jahre nach dem Ende des Sozialismus. „Tsunami Victim Cemetery“ steht in großen Buchstaben neben einer Metalltafel vor dem rostenden Rolltor. Trotz Kette und Vorhängeschloss lässt es sich ein wenig aufschieben, man kann sich vorsichtig an der Ameisenkolonie vorbeischlängeln, die am verlassenen Wachhäuschen hochkrabbelt. Keine Menschenseele. Nur fünf räudige Köter kläffen auf diesem vergessenen Friedhof. Stinkendes braunes Wasser umspült den Sockel der Betonwelle, die auch hier nicht als Symbol fehlt, Stelen und einsame Fahnenmasten, abgeschlossene, weitgehend leere Ausstellungsgebäude, blau gedeckt, verdreckte Toiletten. Wie lange war hier niemand mehr?

Von einer schwarzen Gedenkmauer im hinteren Teil lächelt neben anderen Opfern erkennbar Friedrich Wilhelm Raab. Schnauzer, offener Hemdkragen, daneben ein paar grüne Plastikkränze, ausgebrannte Kerzengläser. Stumme Zeugnisse wie eine Anklage.

Auf der anderen Straßenseite, goldene Schrift auf schwarzem Granit, das „Tsunami-Opfer-Identifizierungs- und Repatriierungs-Center“ der königlichen Thai-Polizei, ebenso gespenstisch. Aus einem Fenster am Eingang steckt ein Mann seinen Kopf und den bloßen Oberkörper heraus, eine Brille in der Hand. Seit einem Monat ist Miti hier, sein Boss habe ihn als Wachposten hierher beordert, der 53-Jährige fühlt sich sichtlich unwohl. Wie für die Flucht bereit, steckt an der blauen 100er Honda vor der Tür der Zündschlüssel. Er müsse auf die verbliebenen Leichen aufpassen, sagt er und zeigt auf einen Container. Dort lägen noch die Körper von rund 50 Ausländern, sie seien identifiziert, aber von den Angehörigen bisher nicht abgeholt worden. Eine Szenerie wie aus einem schlechten Film. In Reih und Glied stehen weiter hinten noch mehr Container, in der „Dirty Area“ stapeln sich Metallsärge hinter schwarz verklebten Fenstern, nebenan zwei Verbrennungsöfen mit hohen Kaminen, die verkohlten Luken wie eine stumme Aufforderung offen, davor Bahren auf Rollen. In den Bäumen stimmen Chakatan ein gellendes Pfeifkonzert an. Der Fahrer drängt zum Aufbruch.

Am Samstag werden sie in Khao Lak der Opfer gedenken, sie werden Reden halten und Kerzen. Horst Stahl wird nicht zur Gedenkfeier gehen, auch nicht zum Grab seiner Frau. Das gibt es nicht. „Die Leiche haben die Studenten bekommen. Zur Trauerfeier bin ich nicht gegangen. Als ich den Bescheid gekriegt habe, bin ich in den Garten gegangen und hab die Stereoanlage aufgedreht, ,Bridge Over Troubled Water’ und all die alten Lieder, hab sie dröhnen lassen, bis sie durchgebrannt ist.“ Am Samstag will er zum Lah-Own gehen, zu ihrem Bungalow, „und noch mal heulen. Ich darf noch mal, oder?“

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