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Panorama: "The Hyperion Schubert Edition": Die Welt geht um im Lied

Die legendäre Aufnahme des Liedschaffens von Franz Schubert, die Dietrich Fischer-Dieskau und Gerald Moore einst vorlegten, hatte bisher nicht ihresgleichen. Denn erst in ihrer Gesamtheit und in Fischer-Dieskaus Interpretation offenbarten diese Lieder ihre überragende musikgeschichtliche Bedeutung, die in einem völlig neuen Verhältnis der Musik zum dichterischen Wort begründet liegt, folgenreich für mindestens ein ganzes Jahrhundert.

Die legendäre Aufnahme des Liedschaffens von Franz Schubert, die Dietrich Fischer-Dieskau und Gerald Moore einst vorlegten, hatte bisher nicht ihresgleichen. Denn erst in ihrer Gesamtheit und in Fischer-Dieskaus Interpretation offenbarten diese Lieder ihre überragende musikgeschichtliche Bedeutung, die in einem völlig neuen Verhältnis der Musik zum dichterischen Wort begründet liegt, folgenreich für mindestens ein ganzes Jahrhundert. Und sie offenbarten ihre sozialgeschichtliche Bedeutung als eine unbestechliche Chronik des frühen 19. Jahrhunderts. Schubert hat den Zerfall von Gemeinschaft in viele Einzelne und die Aufspaltung des eigenen in viele Ichs qualvoll erfahren und, lebenslang dagegen angeschrieben, rastlos, auf Zetteln, Packpapier, Wirtshausrechnungen, selten auf frischem guten Notenpapier. Kaum ein Lied findet sich darunter, dessen Fehlen keine merkbare Lücke in die Chronik risse.

Die Schreie der Minerva

Nun war jedoch Fischer-Dieskaus Einspielung keineswegs vollständig, ließen sich doch nicht alle Lieder Schuberts in eine Chronologie von Frühwerk, schöpferischem Ausbruch, Werk der Reife und Spätwerk einpassen, in eine Ordnung also, die manche für eine höhere halten. Wie also wäre Schuberts Liedern heute neu zu begegnen? "Tausend Plateaus", haben die Philosophen Gilles Deleuze und Félix Guattary einmal über ihr gleichnamiges Werk gesagt, "wollte gerade die Ritornelle, die Lieder zusammenfügen, die zu jedem einzelnen Plateau gehören. Denn auch die Philosophie ist vom kleinen Lied bis zum mächtigsten Gesang nur eine Art von kosmischem Sprechgesang. Die Eule der Minerva hat (um mit Hegel zu sprechen) ihre Schreie und ihre Lieder - und das Wichtigste in der Philosophie sind Schreie, um die herum Konzepte zu regelrechten Gesängen werden." - Der Spielmann vom Himmelpfortgrund als Zeuge für das Philosophieren von Deleuze und Guattari, gar für "Kapitalismus und Schizophrenie"?

Jetzt liegt die vor 14 Jahren begonnene Schubert-Edition des englischen Labels "Hyperion" abgeschlossen vor, eine Edition der Superlative, die unser Bild von dem Komponisten nachhaltig verändern dürfte. Der Pianist Graham Johnson und seine Sänger haben sämtliche 745 Lieder Schuberts neu erarbeitet. Deren Präsentation zeigt den harten Arbeitsprozess auf, der unsterbliche Kunstwerke erst hervorbringt, und den politischen Komponisten im Werk, den Intellektuellen der Restaurationszeit, kurz: Schubert in Schuberts Land. Seine Lieder erscheinen nicht einfach nach aufsteigender Opuszahl aneinandergepappt, sondern zu thematischen Programmen geordnet. Jede CD besteht mit einem dramaturgisch genau konzipierten, in sich abgeschlossenen Liedprogramm für sich, behauptet jedoch auch ihren Platz innerhalb des Gesamtprogramms, weil jedes einzelne Lied auf ein anderes, jedes Einzelprogramm auf ein komplementäres oder gegensätzliches verweist. Darin scheint eine Zukunft auf, da auch der Klassikhörer nicht mehr von einer CD zu einer nächsten und wieder zu einer vorvorherigen springen, sondern sich seinen Pfad durch den Musikdschungel mit der PC-Maus selbst anlegen wird.

Geister, Barden, Pilger

Für das Projekt haben sich die bedeutendsten Liedsänger der Gegenwart, ob mit großem Namen oder nicht, zur Verfügung gestellt. So singt an erster Stelle - selbstredend - Dame Janet Baker Lieder zu Texten von Goethe und Schiller (Vol.1), Stephen Varcoe singt Lieder zum Thema Wasser (Vol.2), Brigitte Fassbaender zum Thema Tod (Vol.11), Dame Margaret Price zum Thema Nacht (Vol.15) und Christine Brewer zum Thema Religion (Vol.31), Peter Schreier ist in seiner eigentlichen Domäne, dem Schubertschen Strophenlied zu hören (Vol.18). Ironischerweise scheint in der Reihe ausgerechnet Dietrich Fischer-Dieskau, einer der "Väter" der Edition, zu fehlen. Eine Überflutung des vorgesehenen Aufnahmeraums, der Berliner Siemens-Villa, und Terminschwierigkeiten bis zu seinem Bühnenabschied 1992 verhinderten wohl ein Recital, nicht aber eine Rezitation. Fischer-Dieskau spricht den Dichter als Prolog und Epilog und die von Schubert nicht komponierten Gedichte in jener inzwischen legendären Aufnahme der Müller-Lieder (Vol.25), die den Tenor Ian Bostridge schlagartig berühmt gemacht hat. Und Fischer-Dieskau ist als Lehrer einer Sängergeneration gegenwärtig, deren uneitles, zurückhaltendes Musizieren ohne jene schlechten pathetischen Gesten, zu der die Lieder oft verführen, aus einem Lebensgefühl kommt, das dem Schubertschen sehr nahe sein dürfte.

Denn Schuberts Totengesänge, in denen es von Geistern, zürnenden Barden und Pilgern, von Greisen, Kriegern, Jägern und armen Rittern, von Wanderern und Totengräbern mit Heimweh nach dem Grab nur so wimmelt, helfen nicht nur Seelenprobleme des frühen 19. Jahrhunderts verstehen, sie hämmern uns unsere eigenen Seelenängste in die Ohren, die wir aus dem 20. Jahrhundert in das neue mit hinübernahmen. Matthias Görnes Einspielungen der "Winterreise" (Vol.30) und der Lieder nach Gedichten der Brüder Schlegel (Vol.27) haben jene Klarheit, die Hanns Eisler für das Kunstlied einforderte - aber schließlich klingt in Görnes Eisler ja immer auch Schubert mit.

In meinen Ohren sind für einen angemessenen Umgang mit Schuberts Lied auf Tonträgern vor allen anderen jene Folgen der Edition maßstabsetzend, und zwar ganz im Sinne Deleuzes und Guattaris, die als "Schubertiaden" sich der Produktion einzelner Jahre oder eines bestimmten Zeitraums widmen. Dabei knüpft Graham Johnson an die Tradition von historisch verbürgten Treffen des Schubert-Kreises an, wo Schubert seinen Freunden neueste Kompositionen vorstellte. In Gesellschaft von Unbekanntem wirkt Bekanntes selbst unbekannt, in Gesellschaft von Bedeutendem wirkt Unbedeutendes nur als lange Unterschätztes, aus der banalen Singübung und der Gelegenheitskantate nährt sich das "Highlight", das neu gehört werden will. Wer etwa den Zusammenhang mit dem 1827 entstandenen Liederzyklus "Die Winterreise" nicht herzustellen vermag, den wird die inkommensurable Zusammenstellung von Liedern dieses Jahres (Vol. 36) verdutzen: Lieder nach Gedichten des jungen steirischen Poeten Leitner und des Freundes Franz von Schober, drei italienische Gesänge für Luigi Lablache, ein überaus bewundertes Mitglied von Barbajas Operntruppe, und eine "Cantate zur Feier der Genesung der Irene Kiesewetter", der Tochter des Vizepräsidenten der Wiener Gesellschaft der Musikfreunde. Doch gerade in solcher Gesellschaft vermögen Lieder wie "Schiffers Scheidelied" oder der todtraurige "Kreuzzug" endlich aus dem Schatten der "Winterreise" herauszutreten.

Die letzten Blüten edler Kraft

Der eigentliche Star der Edition ist der Mann am Klavier. Ganz selbstverständlich macht Graham Johnsons Spiel die ungeheuerlichen musikalischen Neuerungen in Schuberts Liedbegleitung transparent. Erst auf dieser Grundlage entfaltet sich das Gespräch zwischen Sänger und Pianist und beider mit dem Hörer wie auch innerhalb der Gruppe der Solisten und ihres Begleiters - mittels des Schubertschen Liedes. Das Cover der abschließenden CD "Das letzte Jahr" (Vol.37) zeigt denn auch den Pianisten - "Begleiter" wäre untertrieben! - vor Schuberts Grab auf dem Wiener Zentralfriedhof. Diese CD mit Liedern des Jahres 1828 ist vielleicht eine der schönsten der gesamten Edition.

Einen Zyklus "Schwanengesang" gibt es nicht, Zusammenstellung und Titel stammen von Schuberts Verleger Haslinger, der "die letzten Blüten seiner edlen Kraft" 1829 herausgab. Und so diente der Zyklus bald als Steinbruch, aus dem man sich die Lieder, die zu den besten und berühmtesten Schuberts gehören, beliebig herauslöste und neu zusammenstellte. Es waren wiederum die Interpretationen des großen Dietrich Fischer-Dieskau, die den inhaltlichen und musikalischen Zusammenhang der einzelnen Lieder wieder herstellten. Denn den Zyklus "Schwanengesang" gibt es doch, vielmehr sind es zwei Zyklen oder zumindest ein zweiteiliger nach Gedichten von Rellstab und von Heine. Die Gedichtsammlung des Berliner Poeten und Musikkritikers Rellstab hat Schubert nach Beethovens Tod von dessen Privatsekretär Anton Schindler bekommen. Darin hatte sich Beethoven einige Gedichte zur Komposition vorgemerkt. Und Heines Gedichte entnahm Schubert den 1826 veröffentlichten "Reisebildern". Vertonte Lyrik zweier Gegenwartsautoren also, deren innerer Zusammenhang darzustellen war, ohne den äußeren überzubetonen, dass nämlich Schubert alle dreizehn Lieder in einem einzigen Manuskript fortlaufend geschrieben hat.

Abgeschlossen, unabgeschlossen

Graham Johnson lässt die Rellstab-Lieder von John Mark Ainsley und die Heine-Lieder von Anthony Rolfe Johnson singen, Michael Schade mit fünf Liedern nach Rellstab und Seidl den Zyklus vorbereiten und ihn mit der von dem Verleger Haslinger angehängten "Taubenpost" ausklingen, Schuberts letztem einzelnen Lied, im Oktober 1828 komponiert, kein Höhepunkt seiner Liedkunst und auch kein Abschluss und damit der einzig mögliche dieser abgeschlossenen unabgeschlossenen Edition.

Als Scheide- und Mittelpunkt des Zyklus behauptet "Glaube, Hoffnung und Liebe" nach Christoph Kuffner seinen Platz, wo die drei Tenöre nach je eigener Strophe in bestätigendem "glaube, hoffe, liebe" zusammenfinden. Wiederum und zum guten Schluss bewährt sich das mit den jüngeren Sängern der Edition durchgesetzte Interpretationsideal, auf kalkulierte Emphase und leere Betroffenheitsrhetorik zu verzichten, Schuberts Dichter durch seine Lieder zum Klingen und Schuberts Lieder durch die Sänger beredt werden zu lassen.

Jens Knorr

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