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Auch Tage nach der Katastrophe können die Trauernden nicht fassen, dass so viele Menschen ihr Leben verloren haben.

© AFP

Erfahrungsbericht: Todesfalle auf der Loveparade

Es sollte ein Feiertag werden. Auf der Loveparade in Duisburg. Es wurde ein Schreckenstag. Ein Bericht von einem, dem es gelang, zu entkommen.

Der 27-Jährige ist am Sonntag noch einmal zurückgekommen. Zum Tunnel, an dem sich tags zuvor die Katastrophe ereignete. Er hat Tränen in den Augen und einen Strauß weißer Rosen dabei. „Ich bin durch die Hölle gegangen“, sagt er. „Die Leute sind einander auf den Köpfen herumgetrampelt.“ Dann legt er die Blumen nieder.

Ein paar andere sind auch hierher zum Tunnel gekommen, der jetzt abgesperrt ist. Kaum jemand sagt ein Wort. Fassungslos schauen sie auf den Boden. Im Staub liegen leere Infusionsbeutel, Spritzen, goldfarbene Rettungsfolien. Hier ein Schuh, dort ein Rucksack, daneben eine Sonnenbrille, Bierdosen, Plastikflaschen. Es ist der Ort, an dem in der drangvollen Enge gegen 17 Uhr Panik ausgebrochen war. Der Ort, an dem Menschen über eine steile Treppe dem Gedränge zu entfliehen suchten und dabei abstürzten. Der Ort, an dem 19 Menschen starben.

Wie konnte es dazu kommen? Was war geschehen an diesem Samstag? Einer, der den ganzen Tag erlebt hat, berichtet. Chronologie eines schwarzen Tags:

„12 Uhr: Ich bin aus Hannover zur Loveparade gekommen. Am Hauptbahnhof von Duisburg ist es schon sehr voll. Und wird auf dem Weg zum Veranstaltungsgelände immer voller. Plötzlich staut sich alles. Vor mir steht ein Vater, der seine vielleicht fünfjährige Tochter auf den Schultern trägt.

13 Uhr: Durchsagen folgen. Der Stau liege an den langsamen Kontrollen am Eingang, sagt die Polizei. Aber: Alle kommen rein, wir sollen nur ruhig bleiben.

13.20 Uhr: Noch immer Stillstand. Nur manchmal geht es in kleinen Schritten voran. Jugendliche versuchen, über einen Zaun zu klettern, die Polizei ist schnell da. Eine junge Frau ist in der Menge kollabiert, wird von Sanitätern behandelt. Der Unmut wird größer, viele sind schon angetrunken oder haben Drogen genommen.

13.35 Uhr: Wir sind endlich am Eingang. Die Kontrollstelle ist viel zu klein, es gibt zu wenig Personal. Die Blicke in Taschen und Rucksäcke sind denn auch nur oberflächlich. Versteckte Drogen hätte hier niemand gefunden.

13.45 Uhr: Nach einigen Minuten erreiche ich den Tunnel, in dem später die Katastrophe passiert. Ich durchquere ihn in winzig kleinen Schritten, dicht an dicht. Immer wieder bleibt die Menschenmenge stehen. Vor mir sehe ich den Mann wieder, der seine Tochter auf den Schultern trägt. Wie mag es den beiden ergehen? Dann endlich Licht, ich höre erste Bässe der Paradewagen, die sich vor wenigen Minuten in Gang gesetzt haben, und bin endlich auf dem Festivalgelände. Wieder staut sich die Menge, und immer wieder höre ich Sätze wie: „Ey, ich hab schon jetzt kein Bock mehr.“ Mein erster Gedanke: Wenn es schon jetzt so voll ist, können doch unmöglich alle später Ankommenden hier noch reinpassen.

14 Uhr: Die Floats, die mit riesigen Boxenanlagen bestückten fahrenden Bühnen, drehen schon ihre Kreise auf dem staubigen Kies. Vor ihnen tanzen die Menschen ausgelassen. Immer mehr Raver sind jetzt betrunken, zwei übergeben sich an einem Zaun. Kurz darauf eine erste Schlägerei. 1,4 Millionen sollen auf dem Gelände sein, heißt es nun. Unfassbar, denke ich, für 400 000 ist es ausgelegt.

16.20 Uhr: Manchen wird es jetzt schon zu viel. Ich treffe zwei Schüler, die nur noch runter wollen vom Gelände. Michael hat sein Handy verloren, der andere, Nico, hat keines dabei. Der 18-jährige Nico fühlt sich nicht gut. „Nichts gegessen, Bier, Scheiße“, sagt er knapp. Ich schließe mich ihnen an, gemeinsam irren wir über das Gelände. Wie kommen wir hier bloß wieder raus? Ein Security-Mitarbeiter schickt uns zu einem Notausgang am östlichen Rand des Geländes, wo Bahngleise liegen. Aber dort ist der Ausgang zu: „Versucht es drüben“, ist die knappe Auskunft. An der westlichen Begrenzung angekommen, ähneln sich die Bilder. Hier führt die A59 vorbei, sie ist durch Gitterzäune abgesperrt. Ein Polizist schickt uns zum Haupteingang, der gleichzeitig Ausgang seien soll. Dort angekommen, werden wir wieder zurückgeschickt. Es ist zum Verrücktwerden. Ein junger Besucher hat gehört, dass jetzt doch die Autobahn – ohnehin gesperrt als Rettungsweg – für die Abwanderungswilligen geöffnet werden soll. Zurück am Zaun vor der Autobahn wissen die Beamten von nichts. Die Stimmung wird immer verzweifelter.

17 Uhr: Plötzlich Bewegung. Polizisten tragen ein Stück Zaun zur Seite. Hunderte von Menschen strömen durch die kleine Lücke, über einen Feldweg geht es weiter. Zwei Rettungsfahrzeuge kommen uns entgegen. Nach etwa 400 Metern warten unter einer Autobahnbrücke Feuerwehr und Malteser Hilfsdienst vor einer steilen Betonrampe. Sie haben Leitern auf die Rampe gelegt, helfen den Menschen hinauf und über die Leitplanke der Autobahnauffahrt, auf die wir so gelangen. Dann soll es weiter in Richtung Stadt gehen.

17.20 Uhr: Die Stimmung schwankt zwischen der Erleichterung, entkommen zu sein, und Fassungslosigkeit über die schlechte Organisation. Wir stehen zu diesem Zeitpunkt weniger als 200 Meter vom Tunnel entfernt, in dem sich gerade eine Katastrophe ereignet.

17.45 Uhr: Ich gehe langsam in Richtung Innenstadt. Die Polizei hat Korridore errichtet, damit Rettungsfahrzeuge besser durchkommen. Die Stimmung wird aggressiver, die Menschen wollen einfach nur nach Hause. Von dem Unglück wissen sie noch nichts.

18.20 Uhr: Mein Handy läutet. Es ist etwas Schreckliches passiert. Zehn Menschen, heißt es zunächst, sind im Tunnel ums Leben gekommen. Ich bin starr vor Schreck. Hätte auch ich den Weg durch den Tunnel genommen, in die Todesfalle ... Ich will es mir nicht ausmalen. Auf der Straße spreche mit einigen Jugendlichen. Manche wissen es noch nicht, denken an einen üblen Scherz. Andere greifen sofort zum Telefon, wieder andere wissen schon mehr als ich, hatten Leute in der Nähe stehen.

19 Uhr: Ich gehe langsam durch die Innenstadt, Leuten sitzen auf den Grünstreifen zwischen den Fahrbahnen oder lehnen an Mauern. Eine Tankstelle verkauft Wasser. Ein Raver schüttet sich eine Flasche über dem Kopf aus.

Sascha hält sich an einem Bier fest. Er ist schockiert. Der 27-Jährige wohnt in Duisburg, lebt nur ein paar Kilometer vom Festivalgelände entfernt. ,Warum?‘, fragt er. ,Es hätte so ein schönes Fest werden können.‘ Immer wieder sind Sirenen der Rettungswagen und Polizeifahrzeuge zu hören.

Wiebke hat gerade erst ihre Freundin auf dem Handy erreicht. ,Sie wollte doch nachkommen! Seit einer Stunde habe ich es versucht. Aber es geht ihr gut‘, sagt die 26-Jährige aus dem Emsland. Auch sie hat Tränen in den Augen, wie so viele hier. Sie geht in Richtung Bahnhof. Aus den Boxen vor einem Bistro dröhnt ein Stück von ATB. Einige tanzen, vielleicht haben sie noch nichts von den Toten gehört. Eine Straßenecke weiter läuft ein Song von Moby, die Ballade ,Why does my heart feel so bad‘.

Immer wieder Polizeidurchsagen: Die Loveparade sei jetzt abgesagt worden. Viele reagieren wütend, einer wirft eine leere Bierdose in einen Vorgarten. Andere richten den ausgestreckten Mittelfinger auf eine Gruppe Polizeibeamter. Die reagieren nicht.

Auf dem Weg in die Innenstadt hat jetzt fast jeder ein Handy am Ohr. Die 18-jährige Sarah hat gerade ihre Mutter beruhigt, die im Internet von der Tragödie erfahren hatte. ,Es geht mir gut, es geht mit gut‘, brüllt sie in den Hörer.

Ich gehe in ein Internetcafé, erfahre auf den Onlineportalen Neuigkeiten über das Unglück. Die Anzahl der Toten steigt. Neben mir sitzt Harald. Der 40-Jährige hat sein Handy verloren. Er leiht sich Stift und Papier, versucht, im Internet die Telefonnummern seiner Freundin und von Verwandten zu finden. ,Die machen sich doch alle Sorgen.‘

20.45 Uhr: Ich will nach Hause. Aber niemand kommt im Moment in den Duisburger Bahnhof, er ist gesperrt. Ab und zu kommen Durchsagen. Ersatzbusse werden bereitgestellt. Eine vierköpfige Gruppe neben mir bestellt ein Taxi.

21 Uhr: Wieder einmal Stau. Diesmal im engen Tunnel unter dem Hauptbahnhof. Die Stimmung ist aggressiv. Ein angetrunkener Mann liefert sich eine Rangelei mit einem Polizisten. Viele haben Angst, auch hier könnte es zu einer Panik kommen. Einer versucht zu beruhigen: ,Leute, entspannt euch, wir kommen alle rein‘, ruft er in die Menge.

22 Uhr: Die Bahn stellt Sonderzüge bereit. Ich steige in einen ein, egal, wohin er fährt, Hauptsache weg von hier. Auch im Zug ist es sehr voll. ,Dreimal so viel Platz wie im Tunnel‘, sagt einer, der eng gedrängt vor der Zugtür steht. Zynismus ist eine Lösung. Andere schütteln einfach nur den Kopf. Sie wollen endlich nach Hause.

Der 17-jährige Niklas aus Hagen sitzt neben mir. Wir standen zusammen im Tunnel unter dem Bahnhof, kommen ins Gespräch. Auch er hat sein Handy verloren. Mit meinem beruhigt er seine Mutter. Er wird heute noch nach Hause kommen. Seine Freunde hat er aber unterwegs verloren.

22.45 Uhr. Der Zug hält in Essen, ich nehme ein Hotel. Schreibe beruhigende SMS nach Hause. Mein Telefon klingelt, Niklas’ Mutter ist dran. Sie macht sich immer noch Sorgen um ihren Sohn. ,Ich wollte den da gar nicht hin lassen.‘ Wir reden über das Unglück, nebenbei läuft im Fernsehen eine Sondersendung des WDR.“

Gerd Schild

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