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Trauer

© dpa

Tragödie für Polen: Die große Leere

Durch den Flugzeugabsturz starben am Samstag neben dem Präsidenten auch viele andere Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. Wie geht es in Polen nun weiter?

Noch herrscht an der Weichsel lähmende Trauer. Noch sind wenige willens, kritische Fragen zu stellen. Beispielsweise die Tatsache, dass zusammen mit Staatspräsident Lech Kaczynski die gesamte polnische Armeeführung in einer einzigen Maschine nach Russland unterwegs war. Die Lücke, die das Unglück von Smolensk ins polnische Staatsgefüge gerissen hat, ist besonders groß. Wichtige Vertreter der politischen und intellektuellen Elite des Landes sind ums Leben gekommen. Erinnerungen an das Massaker von Katyn im Jahre 1940 kommen hoch, zumal Kaczynski zu den Gedenkfeiern für diesen kommunistischen Massenmord unterwegs war.

Kann man die beiden Ereignisse vergleichen?

Die Symbolik ist für jeden Polen klar. Allerdings ist die Tragweite der Ermordung von mindestens 22 000 Militärs und Intellektuellen in Katyn und anderen Orten der Sowjetunion durch den stalinistischen Geheimdienst NKWD nicht das Gleiche wie ein Flugzeugabsturz mit 96 Toten. Die Rote Armee führte bei ihrem Einmarsch nach Polen am 17. September 1939 genaue Listen der zu Verhaftenden mit. An vielen ostpolnischen Orten verschwand so die gesamte Elite, vom Tierarzt über den Bürgermeister bis zum Dorfschullehrer. Dazu kamen Tausende von Kriegsgefangenen, Generäle, Offiziere und auch gewöhnliche Soldaten.

Kaczynskis Flugzeugabsturz ist eine große Katastrophe für Polen. Ein zweites Katyn ist es nicht. Polen ist inzwischen ein freies Land, Nato- und EU-Mitglied, mit einer funktionierenden Demokratie und einer vielseitigen Presselandschaft. Trotz Trauer geht das Leben weiter.


Wie stark ist die Politik betroffen?

Noch am Samstagnachmittag hat der Präsident der Großen Kammer im Parlament (Sejm), Bronislaw Komorowski, kommissarisch Kaczynskis Amtsgeschäfte übernommen. So wie es die polnische Verfassung vorschreibt. Der polnische Präsident hat mehr Einfluss als seine Kollegen in Berlin, Wien und Bern, doch den Einfluss eines Barack Obama oder Nicolas Sarkozy hatte Kaczynski nicht. Sein Vorgänger Lech Walesa übrigens auch nicht.

Mitglieder der Regierung unter dem liberalen Ministerpräsidenten Donald Tusk waren praktisch keine in der Unglücksmaschine. Der Regierungschef und einige Minister hatten am Mittwoch an den offiziellen Katyn-Gedenkfeiern, zu denen auch der russische Premier Wladimir Putin angereist war, teilgenommen und waren abends wieder nach Warschau zurückgeflogen. Ein paar seiner Mitarbeiter reisten mit dem Zug. Die meisten sind inzwischen wieder in Warschau und leisten traurig, aber wie gewohnt ihre Arbeit im Heer der Regierungsbeamten. In der polnischen Nationalbank ist der Stellvertreter des tragisch verunglückten Slawomir Skzypek, der erste Vizepräsident Piotr Wiosolek interimistisch nachgerückt. Die Nationalbank sei stabil, beruhigte Komorowski die um die polnische Währung besorgten Journalisten. Mit der Leitung der Präsidialkanzlei wurde ein unpolitischer Beamter, Jacek Michalowski, betraut.

Wie geht es bei der Armee und den anderen betroffenen Institutionen weiter?

Der Tod des Generalstabschefs sowie der Chefs von Heer, Luftwaffe und Marine dürfte die Entscheidungsprozesse über den Afghanistaneinsatz und andere Projekte der polnischen Streitkräfte beeinflussen. Zunächst mussten die entstandenen personellen Lücken gefüllt werden. In der führungslosen Armee haben die Stellvertreter der fünf wichtigsten, mit Kaczynskis abgestürzten Generäle und des ebenfalls verunglückten Vizeadmirals die Verantwortung übernommen. Die polnische Armee funktioniere normal, versicherte Regierungssprecher Pawel Gras. Zum neuen Chef des Amtes für Nationale Sicherheit wurde Stanislaw Koziej ernannt. Der General hatte in der national-konservativen Regierung von Jaroslaw Kaczynski den Posten des Vizeverteidigungsministers bekleidet. Im Büro des Bürgerombudsmanns, des Instituts für Nationales Gedenken und anderen Institutionen mussten am Sonntag ebenfalls die Stellvertreter ran. De facto haben einige von ihnen bereits vor dem Absturz die Entscheidungen getroffen.

Wie ist die Politik aufgestellt?

Das eingespielte Zweigespann Tusk/Komorowski führt nun seit drei Tagen das Land. Die ursprünglich für den Herbst geplanten Präsidentschaftswahlen werden um vier Monate vorgezogen. Fähige Kandidaten für das Amt gibt es in allen politischen Lagern. Allein in Kaczynskis Partei Recht und Gerechtigkeit, die beim Flugzeugabsturz vier wichtige Abgeordnete verloren hat, kann jeder politische Beobachter aus dem Stand fünf potenzielle Kandidaten aufzählen. Der ehemalige Justizminister Zbigniew Ziobro hielt sich schon lange bereit, Lech Kaczynski zu beerben, falls dieser wider Erwarten nicht für eine zweite Amtszeit antreten sollte.

Die Vereinigte Demokratische Linke hat mit Jerzy Szmajzinski ihren Präsidentschaftskandidaten verloren. Doch die Partei spielt derzeit politisch eine eher untergeordnete Rolle. Außerdem verfügt sie über mehrere hoch gebildete und politisch erfahrene Ersatzkandidaten.

Komorowski, der zu Tusks liberaler Bürgerplattform, gehört, hätte seit Monaten laut Umfragen Kaczynski in der zweiten Runde haushoch geschlagen. Nun muss sich der 57-Jährige als Staatsmann erst bewähren, bevor er vom Volk bestätigt werden kann. Doch der einem Adelsgeschlecht entstammende Komorowski war bereits Verteidigungsminister und spricht weit besser Englisch als Kaczynski.

Wie verhält sich der Bruder des verstorbenen Präsidenten, Jaroslaw Kaczynski?

Die Augen der Polen ruhen nun auf dem Zwillingsbruder von Lech. Niemand kann den Moment vergessen, wie Jaroslaw in Smolensk minutenlang vor dem Sarg seines Bruders kniete. Die beiden galten als unzertrennlich. Auch nachdem Jaroslaw im Oktober 2007 sein Ministerpräsidentenamt an Tusk verloren hatte, holte sich sein Bruder im Präsidentenpalast täglich telefonischen Rat bei ihm ein. Es war vermutlich Jaroslaw, der den 45 Minuten jüngeren Lech nach jahrelangem gemeinsamen politischen Kampf 2005 dazu drängte, als Präsident zu kandidieren. Im direkten Vergleich galt Jaroslaw stets als der ehrgeizigere von beiden, als der politische Stratege, der im Hintergrund die Fäden zieht. Von seinen Anhängern wird er bewundert, seine Gegner hassen ihn. Doch würde er nun selbst als Nachfolger von Lech antreten, er könnte die Wahl gewinnen. Aus ehrlichem Mitleid und Mitgefühl – über alle politischen Gräben hinweg.

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