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Marco

© dpa

Türkei: Hoffnung für Marco

Noch muss Marco W. im Gefängnis weiter bangen, aber anscheinend kommt doch etwas Bewegung in den Fall. Die Aussage Charlottes ist in Antalya eingetroffen - bis 14. Dezember soll sie übersetzt sein.

Ende vergangener Woche traf im türkischen Justizministerium in Ankara ein ganz besonderes Dokument aus Großbritannien ein. Es war die Originalfassung der Aussage von Charlotte aus Manchester, in der es um den mutmaßlichen sexuellen Missbrauch des Mädchens durch den deutschen Jugendlichen Marco Weiss geht. Das Ministerium schickte Text und Bänder der per Video aufgenommenen Aussagen zum Schwurgericht nach Antalya weiter, wo sie jetzt ins Türkische übersetzt und dem Richter im Fall Marco vorgelegt werden sollen. Marcos Anwalt geht davon aus, dass damit die Chancen des 17-jährigen Jungen gestiegen sind, Weihnachten bei seiner Familie in Niedersachsen verbringen zu können. Sicher ist das aber nicht. Die Entscheidung fällt am nächsten Prozesstag am 14. Dezember.

Bis dahin werde die Aussage der 13-jährigen Charlotte übersetzt sein, sagte Marcos türkischer Anwalt Mehmet Iplikcioglu am Mittwoch. Auf die Frage, ob er bei der nächsten Verhandlung erneut die vorläufige Freilassung des Teenagers aus Niedersachsen beantragen werde, antwortete Iplikcioglu: „Mit Sicherheit.“ Die Chancen, dass Richter Abdullah Yildiz diesmal einer Freilassung zustimmen werde, seien mit der Ankunft der Aussage von Charlotte in der Türkei gewachsen. Mit einem Urteil ist am 14. Dezember aber noch nicht zu rechnen; im Mittelpunkt steht die Frage, ob der junge Angeklagte aus Deutschland für den Rest des Verfahrens auf freien Fuß kommt.

Lange hatte es gedauert, bis die Vernehmung von Charlotte durch britische Beamte in Manchester zustande kam und die Original-Dokumente über den umständlichen Dienstweg mit Beteiligung diverser Ministerien und Behörden in der Türkei und Großbritannien endlich an ihrem Bestimmungsort eintrafen: Bereits am 11. Mai, einen Monat nach dem Beginn der Untersuchungshaft Marcos, hatte das Gericht in Antalya nach Angaben aus Justizkreisen das Verhör Charlottes in Großbritannien beantragt. Vom Gericht ging der Antrag an das türkische Justiz- und dann an das Außenministerium. Erst dann wurden die britischen Behörden eingeschaltet, die wiederum nach Befassung der zuständigen Ministerien die Angelegenheit an die Justiz in Manchester delegierten. Die Befragung fand deshalb erst Anfang Oktober statt, bevor für die Aufzeichnungen der langwierige Weg in die Türkei begann. Dieses zeitraubende Verfahren war nötig, weil Charlotte nicht persönlich an der Verhandlung in der Türkei teilnehmen will. Seinem Anwalt zufolge leidet das Mädchen unter den Folgen der Ereignisse und muss psychologisch betreut werden. Die Teilnahme an dem Prozess sei Charlotte deshalb nicht zuzumuten.

Mit dem Eintreffen der Aussage des Mädchens könnte sich nun aber eine Wende in dem Justizdrama um Marco W. andeuten. Die Staatsanwaltschaft am Schwurgericht von Antalya wirft dem 17-Jährigen vor, er habe sich im Osterurlaub in Side bei Antalya an Charlotte vergangen. Nach einer von Charlottes Anwalt angefertigten, inoffiziellen Übersetzung der Aussagen wirft das Mädchen dem deutschen Jungen vor, ihr auf einem Hotelbett die Schlafanzughose heruntergezogen zu haben, während sie schlief. Sie sei von einem Schmerz im Unterleib aufgewacht und habe Marco weggestoßen, sagte Charlotte demnach.

Marco hat intime Kontakte zu dem Mädchen eingeräumt, aber betont, beide hätten die Zärtlichkeiten gewollt. Außerdem habe sich Charlotte als 15-Jährige ausgegeben – damit wäre sie juristisch gesehen kein Kind mehr. Nach türkischem Recht ist, ähnlich wie im deutschen Strafrecht, jeder sexuelle Kontakt zu einem Kind strafbar, egal ob das Kind einwilligt oder nicht. Deshalb hat sich Marco mit der in einem Zeitungsinterview gemachten Aussage, er und Charlotte hätten miteinander schlafen wollen, zumindest aus Sicht der Anklage selbst belastet. In den bisher sieben Verhandlungstagen seit Prozesseröffnung im Juni hatte Richter Yildiz stets die Fortdauer der U-Haft für den Angeklagten angeordnet und dies unter anderem mit dem Fehlen der Aussage des mutmaßlichen Opfers Charlotte begründet.

„Diese Begründung fällt jetzt weg", sagte Marco-Anwalt Iplikcioglu. Er hält die Untersuchungshaft für den Teenager ohnehin für illegal, weil Marco als Minderjähriger ein Recht darauf habe, während eines gegen ihn gerichteten Prozesses in Freiheit zu bleiben. Iplikcioglu nennt die U-Haft für Marco deshalb eine „Haftstrafe ohne Urteil“.

Eine offen Frage ist allerdings, wie der Richter die Aussagen des Mädchens bewertet. Wenn das Gericht zu dem Schluss kommt, dass aufgrund des Berichtes von Charlotte für Marco nicht mehr als eine zweijährige Haftstrafe zu erwarten ist, dann wird der deutsche Jugendliche am 14. Dezember die Untersuchungshaft verlassen können. Möglicherweise wäre auch eine Freilassung noch vor diesem Datum möglich, wenn die Staatsanwaltschaft nach Lektüre der Aussage des Mädchens eilig die sofortige Freilassung des Angeklagten beantragen sollte. Dies gilt allerdings als unwahrscheinlich.

Marcos deutscher Anwalt Michael Nagel sagte im ZDF, nach seiner Ansicht erhärte Charlottes Aussage die Vorwürfe gegen seinen Mandanten nicht. Ob Richter Yildiz das genauso sieht, ist aber nicht sicher. Wenn Yildiz glaubt, in Charlottes Aussage wichtige Anhaltspunkte für eine schwere Schuld des Angeklagten zu erkennen, könnte er die erneute Verlängerung der Untersuchungshaft anordnen. Mindestens an einem Prozesstag in den vergangenen Monaten sprach Richter Yildiz nach Angaben von Teilnehmern in dem nicht-öffentlichen Verfahren von einem „dringenden Tatverdacht“ gegen Marco. Bleibt Richter Yildiz auch bei dem Studium der Aussagen von Charlotte bei dieser Ansicht, muss Marco Weihnachten und Neujahr hinter Gittern verbringen.

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