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Panorama: Unglück von Eschede: Klage gegen die Bahn

An diesem Sonntag vor drei Jahren prallte auf der Bahnstrecke Hannover-Hamburg der Intercity Express "Wilhelm Conrad Röntgen" um 10.58 Uhr bei Kilometer 60,7 nahe Eschede gegen einen Brückenpfeiler.

An diesem Sonntag vor drei Jahren prallte auf der Bahnstrecke Hannover-Hamburg der Intercity Express "Wilhelm Conrad Röntgen" um 10.58 Uhr bei Kilometer 60,7 nahe Eschede gegen einen Brückenpfeiler. 101 Menschen starben, mehr als 100 wurden zum Teil schwer verletzt. Gutachter kamen zu dem Schluss, dass ein Bruch des Radreifens im hinteren Drehgestell des ersten Mittelwagens die Katastrophe auslöste. Die Sachverständigen gehen sogar so weit, dass die Gummi-Radreifen in Hochgeschwindigkeitszügen nicht verwendet werden durften und dass die Schäden bereits Monate vor dem Unglück erkennbar waren.

Bis heute verhandelte die Selbsthilfegruppe der Angehörigen mit der Bahn erfolglos. Am Donnerstag nun verklagte der Berliner Anwalt Reiner Geulen die Bahn stellvertretend für sechs Hinterbliebene zu Schadensersatz in Höhe von mindestens 250 000 Mark pro Person. Zugleich stellte er wegen fahrlässiger Tötung in 101 Fällen und fahrlässiger Körperverletzung in mehr als 100 Fällen Strafanzeige gegen den Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Bahn Netz AG, Roland Heinisch, und den damaligen Vorstandsvorsitzenden für Forschung und Technologie der Bahn AG, Heinz Dürr. Die Bahn AG bezeichnete die Forderungen als "nicht nachvollziehbar". Bahnchef Mehdorn warf Geulen vor, die Bahnvorstände "mit ungeheuerlichen Behauptungen zu diskreditieren".

Die Anzeige wurde im Namen von 66 Betroffenen verfasst. Demnach hatten Heinisch und Dürr am 5. Oktober 1992 im Vorstand der Deutschen Bahn beschlossen, neuartige Gummiräder der Bauart 064 uneingeschränkt einzusetzen, obgleich sie wussten, dass noch kein Betriebsfestigkeitsnachweis für sie vorlag. Heinisch habe die Umrüstung der gesamten ICE-Flotte auf Gummiräder wegen des kommerziellen Erfolgs forciert. Nach einem Aktenvermerk des Herstellers, der Vereinigten Schmiedewerke Bochum (VSG), war es Heinisch, der veranlasste, dass auf die sechsmonatige Erprobung verzichtet wurde. Die VSG habe deshalb bei ihrer Versicherung um die Verdoppelung der Deckungssumme auf 100 Millionen Mark gebeten - der Versicherer lehnte ab, weil die VSG die Betriebsfestigkeitsnachweise eben nicht nachweisen konnte.

Das Bundesbahnzentralamt informierte Heinisch, dass wegen der fehlenden Betriebserfahrung ein gewisses Risiko gegeben sei. Dieses Risiko, so der Trugschluss, sollte nach damaligem Kenntnisstand getragen werden. Die Reifen wurden damals getestet - allerdings in den IC- und Interregio-Zügen, die eine Spitzengeschwindigkeit von 160 km/h erreichen. ICE-Züge kommen auf 280 km/h. Ex-Vorstandschef Dürr war über diese Vorgänge informiert, da ist sich der Vertreter der Kläger sicher. Dürr war damals für Forschung und Entwicklung für das Bundesbahnzentralamt Minden und die Qualitätssicherung zuständig.

Besonders empören sich die Kläger darüber, dass die Bahn an die meisten Hinterbliebenen kein Schmerzensgeld gezahlt habe. Den nächsten Angehörigen sei lediglich eine freiwillige Zuwendung in Höhe von 30 000 Mark überwiesen worden. Offen halten sich die Kläger, ob sie in New York jene Thyssen-Krupp-Holding auf Schadensersatz verklagen, deren Gesellschaften an der Produktion, Kontrolle und Entwicklung der Radreifen hauptsächlich beteiligt waren.

Zu den Klägern gehört ein Mann, der bei dem Unglück seine ganze Familie verlor. Seitdem ist er arbeitsunfähig und aus ärztlicher Sicht selbstmordgefährdet. Auch die Witwe des Zugchefs klagt auf Schmerzensgeld. Sie ist schwer traumatisiert, weil ihr zunächst gesagt wurde, ihr Mann sei leicht verletzt. Als sie ihn im Krankenhaus besuchen wollte, hieß es, er sei am Unfallort tot geborgen worden. Der Ombudsmann der Deutschen Bahn wies Forderungen nach Schmerzensgeld zurück und sagte, die Bahn habe sieben Millionen Mark Schmerzensgeld und 40 Millionen Mark an Entschädigung gezahlt.

Claudia Lepping

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