zum Hauptinhalt
299542_0_c5cadbcf.jpg

© Imago

USA: Arm im Land der Reichen

In der Wirtschaftskrise boomen die Suppenküchen: 35 Millionen Amerikaner sind von Hunger bedroht. Die meisten der Hilfesuchenden sind Frauen und Kinder. Für letztere ist Obdachlosigkeit besonders dramatisch.

Erschreckende Zahlen: Fast jeder siebte in den USA ist arm. In Zeiten der Wirtschaftskrise sind Tafeln und Suppenküchen selbst in Silicon Valley notwendiger denn je. Die USA haben einen Ruf zu verlieren. Das „Land of plenty“ sieht immer mehr Arme, Obdachlose und hungrige Kinder. Nach den jüngsten Zahlen stieg die Armut im Land des Überflusses im vergangenen Jahr auf 13,2 Prozent, den höchsten Stand seit elf Jahren. 2008 waren 39,8 Millionen Amerikaner betroffen, meldet das Statistische Bundesamt.

Die 23-jährige Gloria Navarro gehört zu dieser Statistik. Rückt das Monatsende heran, kocht sie Reis und Bohnen – wie ihre Mutter, die vor 25 Jahren dem kriegs- und krisengeschüttelten El Salvador den Rücken kehrte und in die USA kam. Gloria wuchs in Kalifornien auf, hat einen Highschool-Abschluss und kannte Hunger bis vor kurzem nur vom Hörensagen. Doch Anfang des Jahres verlor ihr Mann Raymundo seinen Job als Fahrer für eine IT-Firma. Glorias Einkommen von 10,50 Dollar die Stunde als Bürokraft allein reicht nicht für die fünfköpfige Familie. Sie gehört plötzlich zu denjenigen, für die eine Mahlzeit keine Selbstverständlichkeit mehr ist. Rund 35 Millionen US-Bürger kennen diese „Lebensmittelunsicherheit“, einen Begriff, den die Bürokraten der Bush-Regierung erfanden.

Als arm gilt für die Statistiker jeder, der weniger als 50 Prozent des Durchschnittseinkommens verdient. Für eine vierköpfige Familie liegt die Armutsgrenze bei 22 025 Dollar. Für Einzelpersonen gilt die Summe von 10 991 Dollar. Am deutlichsten stieg die Armut bei den Hispanics, Migranten aus Lateinamerika, die in Kalifornien inzwischen die größte Minderheit stellen. Wäre da nicht die Hilfsorganisation Second Harvest, hätten die drei Kinder der Navarros im Alter zwischen 18 Monaten und fünf Jahren weder Eier, Gemüse noch Früchte auf dem Teller. „Ab der dritten Woche ist die Haushaltskasse leer, dann bleibt nur noch der Gang zur Tafel“, sagt Gloria.

Poppy Pembroke, der Kommunikationsdirektor von Second Harvest, kennt diese Probleme nur allzu gut. Selbst im Silicon Valley, dem Hightech-Mekka mit seiner hohen Konzentration an Millionären und Milliardären, finden immer mehr Menschen den Weg zu einer „Food bank“. „Die Rezession hat einen schrecklichen Effekt auf die heimische Bevölkerung, denn nicht alle sind gut bezahlte ,Techies‘, sonder einfache Leute,“ sagt Pembroke. Seine Organisation versorgt derzeit monatlich rund 207 000 Menschen im Landkreis von Santa Clara, zu dem Silicon Valley gehört, mit Lebensmitteln. Das macht die gemeinnützige Organisation zur siebtgrößten „Food bank“ im Lande. Rund 18 Tonnen Lebensmittel lieferte sie im vergangenen Jahr an 316 Verteilungsstätten.

Unter den Empfängern finden sich sowohl Arbeitslose – Silicon Valley hat mit 11,8 Prozent eine der höchsten Arbeitslosenraten der USA – als auch Obdachlose. Nicht wenige verloren als Folge der Immobilienkrise ihr Heim. Oder sie gehören zu den 46 Millionen Amerikanern ohne Krankenversicherung, die durch eine Krankheit in so hohe Schulden stürzten, dass sie Insolvenz anmelden mussten. Schätzungen zufolge gingen im Silicon Valley in den vergangenen sechs Monaten rund 50 000 Jobs verloren – bei Internetriesen wie Yahoo und Google, aber auch bei unzähligen Start-ups. Rund 20 Prozent der Bürofläche steht derzeit leer. Gleichzeitig schossen die Anträge für Lebensmittelhilfe in den vergangenen zwölf Monaten um 60 Prozent nach oben, Sozialhilfe um rund 30 Prozent und private Bankrotterklärungen um 59 Prozent.

Das Zentrum InnVision im Süden des Valley, in nächster Nähe zu den Hightech-Riesen, betreut jährlich 24 000 Bedürftige. InnVision ist Suppenküche, Obdachlosenheim, Berufsberatung und medizinische Anlaufstelle in einem. Die meisten der Hilfesuchenden sind Frauen und Kinder. Für letztere ist Obdachlosigkeit besonders dramatisch. Denn ein Viertel der heute obdachlosen Kinder, so schätzen Experten, endet später in der gleichen Sackgasse wie ihre Eltern.

InnVision ist sich der Nähe zu dem enormen Reichtum bewusst und weiß diesen anzuzapfen. Der große Preis einer Tombola, erklärt Leiterin Christine Burroughs, war jüngst eine Villa im Wert von drei Millionen Dollar. Doch selbst unter den Reichen, auf deren regelmäßige Spenden die Hilfsorganisationen angewiesen sind, hinterlässt die Rezession Spuren. Noch vor zwei Jahren verfügte ein Prozent der amerikanischen Haushalte über 23,5 Prozent allen Privatvermögens. Experten schätzen, dass dieser Anteil bis 2010 auf 15 bis 19 Prozent sinken wird.

So wird die Schere zwischen Arm und Reich zwar nicht größer. Doch zugleich leidet die Philanthropie, der Glaube an Menschen, die etwas Gutes tun. Im vergangenen Jahr ist die Anzahl von Spenden über einer Million Dollar von Privatpersonen um ein Drittel geschrumpft. „Wenn ein Unternehmen 20 Prozent weniger Umsatz macht,“ erklärt Second-Harvest-Sprecher Pembroke, „dann sinken auch die Gehälter und die Boni. Und damit leider die Spendenfreude.“

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false