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Auch die demokratische US-Senatorin Elizabeth Warren ist schon Opfer eines sexuellen Übergriffs geworden.

© AFP

USA: Ist Gewalt gegen Frauen unausweichlich?

Der Skandal um sexuelle Übergriffe des Produzenten Harvey Weinstein hat in den USA eine Debatte losgetreten: Ist Gewalt gegen Frauen so unausweichlich „wie das Wetter“?

Selbst Elizabeth Warren hat geschwiegen. Bis jetzt. Die 68-jährige Senatorin ist eine der bekanntesten Politikerinnen in den USA und eine mögliche Bewerberin um das Präsidentenamt bei der nächsten Wahl in drei Jahren. Warren ist eine Kämpferin und auch in den ruppigsten politischen Auseinandersetzungen kaum aus der Ruhe zu bringen. Doch als sie jetzt im Fernsehsender NBC über das sprach, was ihr vor 30 Jahren als junge Jura-Professorin im Büro eines älteren Kollegen geschah, versagte ihr fast die Stimme.

„Er knallte die Tür hinter sich ins Schloss, kam auf mich zu und jagte mich um den Schreibtisch, um an mich ranzukommen“, berichtete Warren. „Ich flehte ihn an: ‚Tu das nicht, ich habe kleine Kinder zu Hause.‘“ Warren konnte schließlich aus dem Zimmer in ihr eigenes Büro fliehen. „Ich saß da und zitterte.“ Nur ihrer besten Freundin erzählte sie damals davon – und beschloss, sich fortan für Männer möglichst unattraktiv zu machen. „Ich habe lange viel Braunes getragen.“

Der Skandal um die sexuellen Übergriffe und mutmaßlichen Gewalttaten des Hollywood-Produzenten Harvey Weinstein hat in den USA nicht nur eine Debatte über sexuelle Ausbeutung von Frauen in der Unterhaltungsbranche und über die Mitwisserschaft eines ganzen Systems losgetreten. Obwohl Weinsteins Brutalität und das Schweigen seiner zum Teil prominenten Kollegen die Gesellschaft schocken, ist der Skandal in der Filmbranche nur der Anfang, wie sich nach und nach zeigt. Plötzlich wird sichtbar, dass Frauen auch weitab von Hollywood überall und routinemäßig Opfer eines Drucks sind, der von ungebetenen Avancen bis zur offenen sexuellen Gewalt reicht – und für den bisher nicht die Männer, sondern sie selbst verantwortlich gemacht worden sind.

Kein Lebensbereich scheint frei davon zu sein. Bei Film und Fernsehen ist der Missbrauch bloß sichtbarer als auf anderen Feldern. In seiner Zeit als Fernsehstar prahlte US-Präsident Donald Trump damit, dass er wildfremden Frauen zwischen die Beine greifen könne, ohne dafür bestraft zu werden. Als die Äußerungen bekannt wurden, spielte Trump sie als Stammtisch-Bemerkung herunter. Der Entertainer Bill Cosby musste sich im Sommer vor Gericht verantworten, weil er während seiner langen Karriere mehr als 50 Frauen vergewaltigt oder mit Drogen gefügig gemacht haben soll. Weil sich die Geschworenen nicht auf ein Urteil einigen konnten, kam Cosby nicht ins Gefängnis.

 Bill O'Reilly wurde von Fox erst gefeuert, als Werbespots storniert wurden

Unterdessen kommen neue Einzelheiten über das Fehlverhalten prominenter Fernsehleute ans Tageslicht. Bill O’Reilly, ein früherer Starmoderator beim konservativen Nachrichtensender Fox News, musste im Frühjahr gehen, weil seine sexuelle Übergriffe gegen mindestens fünf Frauen publik wurden: Der Sender feuerte den Moderator aber nicht etwa wegen der Angriffe selbst; die betroffenen Frauen waren mit Millionenzahlungen zum Schweigen verpflichtet worden. O’Reilly wurde entlassen, weil die Übergriffe an die Öffentlichkeit kamen und große Unternehmen ihre teuren Werbespots in seiner Sendung stoppten.

Jetzt berichtet die „New York Times“, dass vor O’Reillys Entlassung noch ein weiteres massives Schweigegeld floss: Er wird beschuldigt, mit einer Beraterin des Senders eine „sexuelle Beziehung“ gegen deren Willen unterhalten zu haben. Die Frau erhielt demnach 32 Millionen Dollar. Vor O’Reilly musste bei Fox bereits der Gründer des Senders, Robert Ailes, das Feld räumen, dessen frauenfeindliches Verhalten im Sommer 2016 ruchbar geworden war.

Warrens Bericht bei NBC macht deutlich, dass Männer auch in Universitäten ihre Machtposition ausnutzen. Die Twitter-Kampagne „Me too“ – „Ich auch“ – bringt täglich neue Erzählungen von Missbrauch und sexueller Belästigung ans Tageslicht. Da ist die Angestellte einer staatlichen Gesundheitsbehörde, die von einem Kollegen aufgefordert wird, ihre Brüste zu entblößen – und es tut, weil sie um ihre Karriere fürchtet. Da ist die junge Ausbilderin in einem Technologie-Unternehmen, die von ihrem Vorgesetzten begrapscht wird. Da ist die junge Juristin in einer Anwaltskanzlei, die sich über die sexuellen Anspielungen eines Kollegen beklagt und zur Antwort erhält, ein so respektierter Kollege würde so etwas nie tun.

Laut einer Studie werden mehr als 50 Prozent der weiblichen Angestellten der Werbebranche mindestens einmal in ihrem Berufsleben zum Opfer sexueller Belästigung. Im Journalismus sieht es nicht besser aus.

Die Liste ist endlos. Roy Price, Filmchef beim Internet-Riesen Amazon trat kürzlich von seinem Posten zurück, weil er eine Mitarbeiterin sexuell belästigt haben soll. In Kalifornien musste ein prominenter Astrologe und Kandidat für den Nobelpreis seinen Posten an der Universität in Berkely räumen, weil er Studentinnen begrapschte. Der Fahrdienst Uber feuerte 20 Mitarbeiter, nachdem Ermittler ihnen die sexuelle Belästigung von Mitarbeiterinnen vorgeworfen hatten. Kritiker sprechen von einem „systemischen“ Problem in dem Unternehmen.

 Auch das US-Militär kämpft mit sexuellen Übergriffen

In der Politik ist es offenbar nicht anders. Warrens Kollegin Claire McCaskill berichtete NBC, dass sie als junge Abgeordnete in ihrem Heimatstaat Missouri Anfang der 1980er Jahre ihren Fraktionschef fragte, wie sie ihren ersten Gesetzentwurf voranbringen könne. Seine Antwort bestand in der Gegenfrage: „Hast du deine Knieschoner mitgebracht?“ – eine Anspielung darauf, dass sie vor ihm niederknien und ihn befriedigen solle. Wegen dieser Erfahrung sei sie über die Weinstein-Enthüllungen nicht geschockt gewesen, sagt McCaskill heute: „Ich wünschte, ich könnte sagen, dass es mich überrascht hat.“

Auch das US-Militär kämpft mit sexuellen Übergriffen durch Männer – und zwar ausgerechnet bei Offizieren, deren Aufgabe die Bekämpfung von Missbrauch ist. Wie die „Washington Post“ berichtet, ermittelt die Heeresführung gegen einen Militär-Staatsanwalt, der auf Ermittlungen von mutmaßlichen Fällen sexuellen Missbrauchs spezialisiert ist. Der Mann soll einer Rechtsanwältin ein Messer an die Kehle gesetzt und sie mehrfach vergewaltigt haben.

Manche Beobachter meinen, Skandale wie der um Cosby hätten schon vor dem Fall Weinstein ein Umdenken eingeleitet. Bereits seit einiger Zeit vertrauen sich demnach mehr Frauen als früher der Polizei an, um sexuelle Straftäter vor Gericht zu bringen: Die Zahl der gemeldeten Vergewaltigungen in den USA stieg von 82.000 Fällen im Jahr 2013 auf fast 96.000 im vergangenen Jahr. Allein in New York nahm die Zahl der Fälle im vergangenen Jahr um mehr als sieben Prozent zu. Die Behörden gehen davon aus, dass die Anstiege vor allem damit zusammenhängen, dass das Tabu, das sexuelle Übergriffe lange umgab, langsam aber sicher zertrümmert wird.

Wenn das so ist, dürften der Weinstein-Skandal, die „Me too“-Kampagne und die Tatsache, dass prominente Frauen wie Angelina Jolie oder Elizabeth Warren ihr Schweigen brechen, für weitere Schockerlebnisse sorgen. Doch damit ist es nicht getan, warnt Alexandra Petri. Die Kolumnistin der „Washington Post“ sieht das Grundübel in einem Gesellschaftsklima, das den Frauen die Schuld zuschiebt und das sexuelle Gewalt von Männern als unabänderlich „wie das Wetter“ hinstellt.

Bisher werde die schiere Existenz von Frauen als Grund dafür angeführt, dass sie von Männern belästigt, missbraucht oder vergewaltigt werden, schreibt Petri. Den Frauen werde suggeriert, ihre Situation sei wie die eines Passanten, der in einer dunklen Gasse beraubt wird: So etwas passiert nun einmal in dunklen Gassen. Doch genau da liegt das Problem, betont die Journalistin: Der Vergleich sei falsch, weil Frauen keine Alternative zur „dunklen Gasse“ ihrer Existenz haben.

Eine Änderung dieser Prämisse erfordert von Frauen nicht nur die Bereitschaft, über ihre Erlebnisse zu reden. Sie müssen sich auch von dem Gedanken befreien, dass sie Übergriffe selbst verschulden, weil sie attraktive Kleidung tragen, hübsch oder jung sind oder am Arbeitsplatz die Unterstützung männlicher Vorgesetzter bei einem Projekt wollen. „Er ist es, der sich daneben benimmt“, nicht die Frau, sagt Elizabeth Warren. Petri formuliert es anders: „Männer sind nicht das Wetter.“

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