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Panorama: Valentin Falin im Gespräch: "Ich habe keine Angst mehr"

Bis auf Stalin hat er mit allen russischen Staatsmännern eng zusammengearbeitet, er gilt als einer der Strategen der deutsch-sowjetischen Beziehungen, und er war lange Jahre Botschafter der UdSSR in Bonn: Valentin Falin, 74, ist einer der großen Zeitzeugen des vergangenen Jahrhunderts. Selbst während des Kalten Krieges wurde er vom Westen gelobt.

Bis auf Stalin hat er mit allen russischen Staatsmännern eng zusammengearbeitet, er gilt als einer der Strategen der deutsch-sowjetischen Beziehungen, und er war lange Jahre Botschafter der UdSSR in Bonn: Valentin Falin, 74, ist einer der großen Zeitzeugen des vergangenen Jahrhunderts. Selbst während des Kalten Krieges wurde er vom Westen gelobt. Er könne "brillant formulieren" und sei stets "hart in der Sache", schrieb "Die Welt" 1988. Und die "Welt am Sonntag" sah ihn 1976 so: "Falin ist der beste Deutschland-Kenner im Kreml." Falin war das Pendant zu Egon Bahr, beide handelten Anfang der 70er Jahre die Ostverträge aus; Marion Gräfin Dönhoff nannte den Russen "einen Diplomaten der Spitzenklasse". In Zeiten der Perstroika holte ihn Michail Gorbatschow zurück ins Zentrum der Macht. Seit 1991 hat der Rentner mehrere Bücher geschrieben, darunter "Zweite Front. Die Interessenkonflikte in der Anti-Hitler-Koalition", "Politische Erinnerungen" (beide Droemer Knaur) und zuletzt "Konflikte im Kreml" (Blessing). Heute lebt Falin mit seiner Frau in Moskau und Deutschland. Das Gespräch fand in seinem Häuschen in der Nähe von Hamburg statt.

Guten Tag, Herr Falin, Sie schauen gerade Fernsehen. Sind das ...

Nachrichten, ja. Und ich finde es enttäuschend, dass so wenig über Russland berichtet wird. Ich glaube, nicht nur die Russen in Deutschland hätten Interesse an objektiven Nachrichten aus meiner Heimat.

Wenn man Bilder aus den ehemaligen Sowjetrepubliken sieht, sind sie meist erschreckend: Zum Beispiel die erfrierenden Menschen in Sibirien.

In Sibirien ist die Situation seit Jahren dramatisch. Das war schon unter Gorbatschow so. Er hat zwar davon gesprochen, wie man am besten diese sibirischen Weiten ökonomisch und sozial unterstützt. Aber wie fast immer bei ihm ist es bei Worten geblieben.

Die Schwierigkeiten von Sibirien sind nicht unbedingt zu verstehen, Sibirien ist ein reiches Land.

Es gibt dort wirklich alles: Erze, Diamanten, Buntmetalle und die qualitativ beste Kohle, sogar die Japaner kaufen sie. Aber wegen des harten Klimas existieren eine Menge Probleme, bei Temperaturschwankungen bis zu 90 Grad. Was man brauchen würde in Sibirien ist eine Strategie, wirtschaftlich, politisch. Die fehlt.

Sie haben sich ja auch mal um Sibirien gekümmert.

Ich war von 1965 bis 1968 im Außenministerium zuständig dafür ...

...und was gab es für Pläne, Sibirien zu retten?

Man wollte unter anderem eine große Stadt, das Zentrum der Diamantengewinnung, unter eine gläserne Decke stecken. Es wurden damals erste Schritte unternommen, aber es gelang nicht.

Herr Falin, außer mit Stalin haben Sie mit allen maßgeblichen sowjetischen Politikern eng zusammengearbeitet. Wer war aus heutiger Sicht der beste Präsident?

Es gab keinen einzigen, mit dem ich mich gerne identifizieren würde. Am menschlichsten war wahrscheinlich ein Mann namens Kalinin ...

Michail Iwanowitsch Kalinin war Mitarbeiter Stalins und Lenins und von 1919 bis 1946 nominell Staatsoberhaupt der UdSSR.

Genau der. Er war ein Parteifunktionär und Berufsrevolutionär, und man kann ihm sicher vorwerfen, dass er keinen Widerstand geleistet hat gegen Stalins Verbrechen. Aber: Niemand wusste besser als Stalin, wie man Menschen unter sein Joch zwingt. Es gab mehrere gewaltsame Todesfälle in der Familie Kalinin ... Kalinins Frau war von Stalin in ein Lager gesteckt worden. Als Kalinin, das war schon 1946, krebskrank im Sterben lag, fragte ihn Stalin: Was wünscht Du Dir, alter Kamerad? Kalinin antwortete: Ich möchte, dass meine Frau aus dem Gefängnis frei kommt. Na ja, sagte Stalin, sonst nichts? Die Frau von Kalinin kam tatsächlich frei. Bei der Trauerfeier nach Kalinins Tod wollte Stalin der Witwe die Hand geben, doch sie kehrte um und ging weg.

In welcher Beziehung war Kalinin anders?

Er hatte offene Ohren für die Probleme der einfachen Leute. Wenn einer erzählte, dass er Schwierigkeiten hat, weil er an Gott glaubt, sagte Kalinin: Ich glaube auch an Gott, aber bekenne das nicht öffentlich.

Reden wir von den anderen Spitzenpolitikern ...

die ja im Grunde ohne jede Bindung zu einer revolutionären Idee agierten. Die eigentliche Tragödie dieser Nation war es, dass wir in Wahrheit ein Ein-Mann-System hatten: Erst Stalin, dann Chruschtschow, dann Breschnew, zumindest der späte Breschnew war auch so, dann Andropow, Tschernenko und am Ende, ganz schlimm, Gorbatschow. Alles war auf diese eine Spitzenperson zugeschnitten.

Gorbatschow finden Sie so schlimm? Vom Magazin "Time" wurde er zum Mann des Jahrhunderts gewählt, in Deutschland wird er hymnisch verehrt.

Kein Wunder, kann ich da nur sagen. Wenn Konrad Adenauer so viel für Russland getan hätte, wie Gorbatschow für Deutschland, wäre Adenauer heute auch der beliebteste Politiker Russlands.

Sie gehörten bis zuletzt zum außenpolitischen Beraterstab Gorbatschows. Er selbst hat Sie eingestellt. War Gorbatschow für Sie eine Enttäuschung?

Er war die größte Enttäuschung meines Lebens. Er war zuletzt Gefangener seiner eigenen Abenteurerpolitik, er ist nur noch dem Strom nachgeschwommen, von dem er selbst nicht mehr wusste, wohin er fließt. Er hat den größten Schaden zugefügt, den jemals ein Politiker in Russland angerichtet hat. Schauen Sie doch die Situation von Russland heute an! Sie ist in allen Bereichen eine Katastrophe.

Wirklich?

Die Folge seiner Politik war das Chaos. Er hat alle früheren Bindungen zerrissen oder zerreißen lassen, er hat keine neuen geschaffen, auch keine neue Ideologie. Im Grunde war er nie bereit, ein Stück seiner autoritären Macht abzugeben. Nach seinem Geschmack hatte er immer zu wenig Macht, obwohl er der absolute Herrscher war. Und da er im eigenen Land alle Sympathisanten einbüßte, hat er sie im Ausland gesucht. Auch deshalb ist Gorbatschow heute in Russland so unbeliebt.

Andrej Gromyko, der legendäre sowjetische Außenminister, soll einmal über Gorbatschow vor dessen Amtsantritt gesagt haben: "Der Mann hat eiserne Zähne." Er hat das als Kompliment gemeint.

Ich kenne dieses Zitat nicht.

Sie waren der langjährige Weggefährte Gromykos.

Gromyko war sehr launisch. In guter Stimmung war ihm Humor gar nicht fremd. Wir waren einmal in Italien lange mit dem Auto unterwegs, von Florenz in Richtung Neapel. Da haben wir versucht, uns ein bisschen zu unterhalten. Unter Diplomaten gibt es einen Brauch, ein Epigramm auf den anderen zu halten.

Laut Meyers Lexikon gehört das Epigramm zur Gattung der Gedankenlyrik.

Also bekam Gromyko ein Epigramm von mir.

Kann man das übersetzen?

Sinngemäß so: "Er sitzt im Zentrum, doch irgendwie am Rande, mit einem Gesicht wie aus Stein gemeißelt." Gromyko hat ein süßsaures Gesicht gemacht und revanchierte sich: "Kanjak armjanski, hleb italjanski, antischne ruinen ..." Sollte wohl heißen: Falin gibt den Hintergrund für antike Ruinen ab.

Diesen Humor haben Sie bewundert.

Nein, bewundert habe ich sein fotografisches Gedächtnis. Das hatten überhaupt viele Mitarbeiter von Stalin, darauf hat er großen Wert gelegt. Stalin selbst hatte diese Fähigkeit auch. Nikita Chruschtschow mochte Leute, die nicht nur anhand von Papieren berichteten, sondern aus dem Gedächtnis. Im Außenministerium wurden solche Leute gern gesehen, zum Beispiel mein Völkerrechts-Professor Durdinewski. Er hatte alle Verträge Russlands des 20. und des 19. Jahrhunderts im Kopf, vollständig, und zwar auf Russisch, auf Französisch und auf Englisch. Während der Pariser Friedenskonferenz sagte der britische Außenminister in einer Verhandlung: "Die russische Delegation zitiert den Vertrag nicht korrekt." Da stand Durdinewski auf und zitierte aus dem Stand, französisch, englisch. Die Briten haben ziemlich lange Gesichter gemacht. Durdinewski wurde auf der Stelle befördert.

Zurück zu Gorbatschow. Es gibt immer wieder Stimmen aus dem kommunistischen Lager, die behaupten, er sei ein Verräter im eigentlichen Sinn gewesen.

Er war ein Spieler, aber dass Gorbatschow für irgendwelche fremde Dienste gearbeitet hat, dass er seinem Land bewusst geschadet hat? Nein, nein, das glaube ich nicht. Das Problem liegt anders: Er kam an die Macht und hatte kein Programm. Systematisches Denken war ihm nicht eigen. Er konnte die Informationsströme perfekt lenken, besser wahrscheinlich, als es Stalin je gekonnt hat. Er konnte wunderbar reden, und er hatte auch wunderbare Ideen, zum Beispiel die Perestroika, die Idee war ja richtig. Aber: Er tat nichts. Nehmen Sie zum Beispiel seine Haltung zur Aufarbeitung der sowjetischen Vergangenheit.

Sie meinen: Stalins Verbrechen?

Ja. Ich habe immer gesagt, Perestroika hat nur eine Chance, wenn wir bedingungslos mit dem Stalinismus als System, als Staatsordnung abrechnen. Ich weiß noch gut, wie ich das mal, ganz am Anfang seiner Amtszeit, vor etwa 200 Menschen gefordert habe. Gorbatschow fing an, mit mir zu streiten, er und Ligatschow waren gegen mich, alle anderen schwiegen.

Wann sind Sie Gorbatschow zum ersten Mal begegnet?

Das war 1975, als ich sowjetischer Botschafter in Deutschland war. Gorbatschow war auf Einladung der Deutschen Kommunistischen Partei in Bonn, und er gefiel mir damals sehr gut. Er war anders als die vielen sonstigen Besucher aus der Sowjetunion. Die meisten waren eher desinteressiert oder versteckten ihr Interesse. Gorbatschow wirkte sehr lebendig, und er sagte damals schon: Es gibt in Deutschland einiges, worüber wir uns Gedanken machen sollten. Die wirtschaftliche Entwicklung beeindruckte ihn.

Sie sind wie so viele seinem Charme erlegen?

Es wurde immer von seinen Augen geschwärmt. Diese tollen, ausdrucksstarken Augen: Alle haben versucht, in ihnen etwas zu lesen. Nun ja. Viel haben sie nicht gefunden. Die persönliche Tragödie von Gorbatschow war: Er hat am Ende allem abgeschworen, was er in seinem Leben vorher ungemein wortreich vertreten hatte. Aus dem größten Kommunisten dieser Erde wurde einer der größten Antikommunisten.

Heute sagt er, er sei ein Sozialdemokrat.

Ja. Wobei er wohl noch nicht endgültig entschieden hat, ob er nicht doch lieber ein linker CDU-Mann sein möchte. Eine Weile spielte er einen demokratischen Sozialisten. Na, in Wandlungen kennt er sich ja aus.

Gab es ein letztes Gespräch zwischen Ihnen?

Ein Telefongespräch, am 23. August 1991. Er kam gerade aus dem Süden zurück, befreit aus dem so genannten Arrest.

Das war am Tag, als der Putsch beendet worden war. Damals hatten verschiedene sowjetische Kaderleute, wie etwa der KGB-Chef, versucht, den Präsidenten zu isolieren und die Macht an sich zu reißen.

Ich hatte ihn angerufen, um ihn zu informieren, dass in meinem Moskauer Safe viele wichtige Unterlagen liegen, die ihn betreffen und möglicherweise nationale Interessen beschädigen könnten, wenn sie in falsche Hände geraten würden. Gorbatschow sagte: Valentin, Du verstehst, in welcher Lage ich bin, Du hast ja im Fernsehen gesehen, wie ich von diesen Leuten, er meinte Jelzin und seine Leute, gedemütigt worden bin. Dann sagte er noch: Die Zeit wird alles richten. Es war die Tonlage, die ich schon von früher kannte, freundlich, nach Mitgefühl suchend. Später habe ich erfahren, dass unsere Vertreibung gerade an diesem Tag aus dem Zentralkomitee in enger Abstimmung mit Gorbatschow geschehen ist.

Sie mussten plötzlich Ihr Büro verlassen.

Das Schlimmste war, dass all die wichtigen Papiere einfach aus den Regalen geschleudert wurden. Jeder, der etwas mitnehmen wollte, konnte das tun. Einer meiner Mitarbeiter, Smirnow hieß er, hat das reichlich getan und vieles davon später verkauft.

Sie mussten auch privates Material zurücklassen.

Ich durfte kein einziges Stück Papier mitnehmen. Im Safe lag mein persönlicher Terminkalender. Auch viele private Briefe. Zum Beispiel von Heinrich Böll und seiner Frau. Ein halbes Dutzend Briefe hat mir Böll geschrieben, in denen er zum Beispiel um Hilfe für einzelne Personen bat, die ausreisen wollten. Oder es ging um Bilder, die er gekauft hatte, aber plötzlich nicht aus der Sowjetunion mitnehmen durfte, weil das angeblich der russischen Kultur Schaden zugefügt hätte. Es gab auch Briefe von Helmut Schmidt, von Gräfin Dönhoff. Sie sind alle weg.

Es waren turbulente Tage. Kurz nach seiner Freilassung unterschrieb Gorbatschow auf Geheiß von Boris Jelzin ein Dekret, das die Auflösung der Kommunistischen Partei besiegelte.

Als das ZK-Gebäude geräumt wurde, wurden viele von uns beschimpft, manche auch geschlagen. Viele waren nervös. Mir hat ein junger Mann beim Rausgehen gesagt, er wolle jetzt mit mir diskutieren. Ich habe nur gesagt: Keine Zeit.

Sie sind dann mit Ihrer Frau bald nach Deutschland ausgereist. Sie hatten nur zwei Koffer dabei.

Ja. Mit Kleidern meiner Frau. Und im anderen Koffer war ein Anzug von mir. Sonst nichts, keine persönlichen Papiere, gar nichts. Ich hatte ein Angebot von Egon Bahr ...

...dem Sie jahrzehntelang bei deutsch-sowjetischen Verhandlungsrunden gegenüber saßen ...

in seinem Hamburger Institut mitzuwirken, aber entschieden war noch nichts. Es war nicht klar, wie lange wir in Deutschland bleiben werden. Dazu verfügten wir über keinerlei Geld für unseren Aufenthalt.

Rudolf Augstein, der "Spiegel"-Herausgeber, stellte Ihnen für die erste Zeit eine Wohnung zur Verfügung.

Dafür sind wir ihm sehr dankbar. Er hat eine Menge unternommen, um unser Dasein so bequem wie möglich zu machen.

Hatten Sie eigentlich Angst in diesen Stunden, als das ZK-Gebäude geräumt wurde?

Ich? Nein. Ich habe alle meine Ängste in der Kindheit gelassen. Ich war elf Jahre alt, als wir jeden Tag darauf warteten, dass mein Vater verhaftet wird. Ich habe ihm geholfen, die Bücher aus seiner Bibliothek zu verbrennen, da waren Schriften von Bucharin und Trotzki, eines davon hätte genügt, dass man in die Verbannung oder gleich in den Tod geschickt wurde.

Das war in den 30er Jahren. Zu Zeiten der großen Säuberungsaktionen von Stalin.

Wissen Sie, wie man bei uns antwortet auf die Frage, welcher Tag der trübste und dunkelste im Jahr ist?

Nein.

Der 21. Dezember. An diesem Tag ist Stalin geboren.

War Ihre Familie von den Säuberungen betroffen?

Mein Onkel war Ingenieur und leitete den Bau einer riesigen Militärbaustelle im Fernen Osten. Plötzlich wurden er und sein Stellvertreter verhaftet und als japanische Spione zum Tode verurteilt. Man sparte an Schießpulver, man warf sie einfach in den Amur-Fluss - und ertränkte sie. Einen Tag nach ihrem Tod kam ein Telegramm von Stalin, man solle in der Verfolgung so genannter Volksfeinde nicht übertreiben. Alle, die noch am Leben blieben, wurden begnadigt. Ein Cousin meines Vaters, ein ehemaliger Zaren-Offizier, ist schlicht verschwunden. Man weiß bis heute nicht, was genau mit ihm geschah.

Dann kam der Zweite Weltkrieg. Der deutsche Überfall.

Unter den 27 Millionen sowjetischen Bürgern, die der Hitler-Invasion zum Opfer fielen, waren 27 Menschen mit mir verwandt oder verschwägert. Meine Großmutter starb, die Schwester meines Vaters mit ihren fünf Kindern. Drei Kinder einer anderen Schwester meines Vaters starben, ihre Ehemänner ....

Wenn Sie sich an den Krieg erinnern, haben Sie da bestimmte Bilder im Kopf?

Leider habe ich für solche Ereignisse ein fotografisches Gedächtnis. Diese Bilder verfolgen mich bis heute. Oft nachts in meinen Träumen. Dieses unglaubliche Leid, was in Russland geschehen ist.

Gibt es ein konkretes Bild?

Wissen Sie, viele Mitglieder meiner Familie sind nicht einfach so gestorben. Sie wurden Wehrmachts-Einheiten wie ein lebendiger Schutzschild entgegengetrieben. So kamen sie um. Stalin hatte so genannte Strafbataillone errichtet, etwa 1943. Sie wurden immer dann eingesetzt, wenn klar war, dass es besonders lebensgefährlich wird. Die Bataillone bestanden aus Deserteuren, Fahnenflüchtigen oder welchen, die man zu Feiglingen erklärt hat. Sie sollten mit ihrem eigenen Blut ihre Sünden wegwischen.

Man hätte verstehen können, dass Sie nach dem Krieg von den Deutschen nichts mehr wissen wollten.

So war es ja auch. Aber dann setzte sich doch meine Erkenntnis durch, dass man es sich nicht so einfach machen kann. Ich verstand es als eine Art Vermächtnis von meinen getöteten Verwandten, etwas zu klä-

ren: Wie konnte es dazu kommen, dass eine Nation, die so viele in Russland als Muster für hohe Kultur und Geist, von Erfindungsdrang und Ingenieurkunst bewundert hatten, so viel Grausamkeiten in unser Land bringen konnte. Es war schwierig, darauf Antworten zu finden. Das spürte ich, als ich Aufgaben lösen sollte für die Regelung der Beziehungen zwischen der Sowjetunion und Deutschland. Mir schien es von Bedeutung, die Brücken zwischen Veteranen dieser beiden Länder aufzubauen, aber ich stieß auf erregten Widerstand von russischen Militärs, den ich nicht überwinden konnte. Einer dieser Generäle sagte mal zu mir, er sei nicht im Stande, seine Gefühle zu verdrängen. Er hatte gesehen, wie verwundete russische Soldaten von deutschen Soldaten bei lebendigem Leib verbrannt wurden. Er sagte, er habe Respekt vor den Verhandlungen heute, aber er könne da nicht mitmachen. Ich habe ihn gut verstanden.

Herr Falin, erinnern Sie sich noch an Ihre erste Begegnung mit Nikita Chruschtschow?

Ganz genau. Es war in Wien, im Rahmen des Treffens zwischen Kennedy und Chruschtschow. Im Fernsehen lief eine Reportage über die Landung von Kennedy in Wien. Und in der russischen Delegation befanden sich nur Leute, die Englischspezialisten waren. Chruschtschow wollte aber die österreichische Fernsehsendung verstehen, also sagte Gromyko, ich solle übersetzen.

Waren Sie da nervös?

Nein, keinesfalls. Ich erzählte Chruschtschow, wie das Fernsehen seine Ankunft kommentiert hatte. Chruschtschow kam mit der Eisenbahn einen Tag früher an, und die Sonne schien aus einem wolkenlosen, blauen Himmel. Man sprach von einem Symbol der Hoffnung. Dann kam Kennedy, und es regnete ununterbrochen, als hätten sich die Himmelsschleusen geöffnet. Chruschtschow sagte: Interessant, was werden sie sich nun ausdenken?

Wie beurteilen Sie Chruschtschow heute?

Er war ein ungewöhnlicher begabter Mann mit Haufen von Ideen und einem phänomenalen Gedächtnis. Er hatte alle Jugendlieder auswendig im Kopf. Es gab eine Zeit, da war er empfänglich für Informationen, da ließ er sich noch beraten. Dann wurde er der absolute Herrscher, er entschied selbstherrlich von einer Minute auf die andere. Ich war in seinem Arbeitszimmer, als das Thema auf Albanien kam. Ein Mitarbeiter sagte, dass Albanien gebeten habe, nicht aus dem Comecon ausgeschlossen zu werden. Chruschtschows Reaktion war für uns Anwesende wie ein Paukenschlag: "Was? Man muss Albanien aus allen Institutionen mit einem schmutzigen Besen jagen!"

Chruschtschow war an vielen schwierigen Krisen der Weltpolitik beteiligt. Zum Beispiel 1961 in Berlin ...

als sich im Oktober 20 Tage lang sowjetische und amerikanische Panzer gegenüberstanden. Ich bin wahrscheinlich der Einzige, der dabei war - und noch am Leben ist -, als Chruschtschow dem für Berlin zuständigen Marschall befohlen hat, mit scharfer Munition zu schießen, wenn die Amerikaner versuchen, die Grenzeinrichtungen der DDR zu kippen. Das waren dramatische Tage, und ich weiß noch gut, als sich die Lage entspannt hatte, kam ein versöhnlicher Brief von Kennedy. Wir saßen in Chruschtschows Büro und am Ende einer Besprechung sagte er, so, jetzt hören wir uns noch Kennedys Brief an. Nachdem er vorgelesen war, sagte Chruschtschow: Den hat er selbst geschrieben, der Junge. Also muss ich ihn auch eindrucksvoll beantworten. Er schaute mich an: Ich diktiere Dir jetzt, was ich ungefähr meine, und Du bringst es dann in die richtige Form und lässt alles weg, was dumm ist. So redete er. Ich schrieb also: Die sowjetische Seite akzeptiert die Forderungen der USA, die Verhandlungen zu beginnen. Chruschtschow hatte noch gesagt, ich solle die Frage reinschreiben, wie man das Adenauer verständlich machen sollte? Die Reaktion aus Washington war: Das ist unser Bier.

In diesen Tagen läuft der Hollywood-Film "Dreizehn Tage" an. Im Mittelpunkt steht die Kuba-Krise im Jahr 1963, eine These des Films ist: Chruschtschow hatte einen eigenen Kanal, einen ehemaligen Waffenbruder, der in New York lebte und am ganzen sowjetischen Beraterstab vorbei den Kontakt zu Kennedy in diesen Tagen hielt.

Stimmt. Diesen Kanal gab es. Er lief parallel zu anderen diplomatischen Wegen. Es war Oberst Bolschakow, der hatte Kontakt zu Robert Kennedy, dem Bruder des Präsidenten. Dass der Oberst ein ehemaliger Waffenbruder von Chruschtschow gewesen sein soll, ist Unsinn. Eine der vielen Legenden.

Damals war der Weltfrieden in akuter Gefahr, als die Sowjetunion ihre nuklearen Raketen auf Kuba stationieren wollte und die sowjetischen Schiffe schon in Richtung Kuba unterwegs waren.

Sicher war das ein sehr riskantes Unternehmen, aber nicht weniger riskant als die Stationierung amerikanischer Raketen in der Türkei oder in Italien. Viele Jahre später erzählte mir Robert McNamara ...

...der von 1961 bis 1968 amerikanischer Verteidigungsminister war ...

was letztlich die Kuba-Krise beendet hat und was nicht Teil des offiziellen Abkommens war: Die USA zieht einseitig ihre Raketen aus Italien und der Türkei ab. Und dann gab es sozusagen noch einen stillen Anhang: Die Amerikaner lassen in Zukunft Kuba in Ruhe und wir dafür West-Berlin.

Was war denn Ihr letzter Kontakt mit Nikita Chruschtschow?

Es war ein Brief, den ich für ihn geschrieben habe. Es war eine Art Entschuldigungsbrief, denn Chruschtschow hatte eigentlich kein Mandat für das Aufstellen der Raketen auf Kuba, weder vom Politbüro noch von der Regierung. Dafür entschuldigte er sich nun. Es war meine letzte Arbeit für ihn. Danach wurde ich krank und war für ein halbes Jahr außer Gefecht. Als ich wieder zurückkam, stand Chruschtschow schon im Feuer.

Der nächste starke Mann in Moskau hieß Leonid Breschnew. Wann haben Sie ihn kennen gelernt?

Das war 1964, auf einer Reise durch die DDR. Er war der Vorsitzende des Präsidiums des Obersten Sowjets. Ich ahnte nicht, was das für bedeutende Tage waren, denn in dieser Zeit wurde der Sturz Chruschtschows vorbereitet. Man telefonierte ununterbrochen zwischen Moskau und Berlin. An einem Tag hatte Honecker Breschnew zur Jagd eingeladen, und ich war Dienstleistender am Telefon. Dann kam der Anruf von Palianski, er war damals Ministerpräsident der Russischen Föderation, er fragte, ob er Breschnew sprechen könne? - Nein, sagte ich, er ist mit Honecker auf der Jagd. - Wann er zurückkommt? - Ich hoffe am späten Abend. Aber wenn die Angelegenheit sehr dringend ist, kann ich versuchen, Sie mit der Residenz Honeckers zu verbinden. - Nein, sagte Palianski, das kann warten, aber sagen Sie ihm, Palianski hat angerufen. Auf dem Rückflug kam Breschnew zu uns und sagte: Freunde, bald wird alles anders. Wir guckten ihn erstaunt an und verstanden nicht. Na ja, sagte er, anders und menschlicher. Zwei Tage danach war Chruschtschow abgesetzt.

Weil Sie gerade vom Telefondienst sprechen: Es gibt aus dem Jahr 1986 ein Foto von Ihnen, da sitzen Sie vor sieben Telefonapparaten.

Oh ja, es standen sehr viele Telefone auf meinem Schreibtisch. Es gab darunter ein direktes Telefon zu Gorbatschow, ein direktes für das Ausland, wenn ich zum Beispiel mit Berlin sprechen wollte, es gab ein direktes Telefon für Anrufe meiner Frau, die nicht über das Sekretariat liefen. Dann gab es das Sekretariatstelefon und ein Telefon für die Regierungsgeschäfte. Und dann war noch eine extra sichere Leitung für besonders wichtige Gespräche. Dies war nötig, weil die amerikanischen Geheimdienste 80 Prozent ihrer Informationen durch Abhören von Telefonen bekamen.

Und was machten Sie, wenn drei Telefone gleichzeitig klingelten?

Das war nicht erfreulich. Na ja, man musste dann schnell entscheiden und zwei eben rasch zum Sekretariat weitergeben.

Wer war wichtiger: Wenn Gorbatschow anrief oder Ihre Frau?

Meine Frau natürlich.

Sie lächeln. Was waren das eigentlich für Telefone?

Sie hatten eine besondere Eigenschaft: Wenn man im Zimmer war, während sich einer unterhielt, konnte man genau hören, was der andere Gesprächspartner sagte. Das hat mich mal in Schwierigkeiten gebracht. Ich war im Raum, als Andropow, damals KGB-Chef, mit Tschernenko sprach. Ich hörte Tschernenko reden, es ging um den geplanten Einmarsch in Afghanistan. Tage später, als ich mit Andropow wegen etwas anderem zu tun hatte, fragte ich ihn, ob er sich das gut überlegt habe, die Intervention in Afghanistan. Er sagte: Woher weißt Du das? Ich sagte: Wollen wir über diesen Plan nicht noch mal nachdenken? Er sagte: Wenn dieses Thema von Dir angeschnitten wird, dann trägst Du die volle Verantwortung, das musst Du wissen.

Ihr Verhältnis zu ihm galt lange Zeit als sehr gut. Glauben Sie, die Geschichte Russlands wäre anders gelaufen, wenn Andropow nicht so schwer erkrankt wäre?

Ja. Er war der klügste Mann im Politbüro, aber er war seit Mitte der 70er Jahre unheilbar krank. Man wusste, er hat noch ein paar Monate, vielleicht ein Jahr. Das hat ihn politisch geschwächt. Während eines Besuchs in Afghanistan hat er sich eine Viruskrankheit geholt. Ich holte ihn mit Breschnew vom Flughafen ab, er hatte bereits schwarze Flecken im Gesicht, deswegen hat er später diese dunklen Brillengläser getragen. Als er Generalsekretär wurde, wusste man, er hat nur noch ein paar Monate zu leben. Sein Organismus war vergiftet, die Nieren haben bald nicht mehr funktioniert.

Nach dem Ende der Sowjetunion wurde Boris Jelzin erster Präsident Russlands, er galt im Ausland als Hoffnungsträger.

Wenn wir über ihn reden, müssen wir zunächst festhalten: Es ging nicht um die Person Jelzin. Praktisch von Anfang an gab es eine Institution Jelzin, die große Familie und in ihrem Inneren die engsten Mitarbeiter. In seiner Hochzeit arbeiteten fünf Institute in Moskau gleichzeitig für ihn und seine so genannte Familie.

Auch er ist frühzeitig krank geworden.

Schon als er nach Moskau kam, hatte er ein gewaltiges Problem mit dem Alkohol. Und wenn er trank, wurde er aggressiv.

Haben Sie das selbst erlebt?

Wir waren Sitznachbarn im Obersten Sowjet ...

...dem wichtigsten Gremium der UdSSR ...

und er saß in der ersten Reihe, ich in der zweiten, direkt hinter ihm. Wenn er morgens kam, umgab ihn immer schon eine Wolke von einem ganz besonderen Duft. Weil ich nun mal keinen Alkohol trinke, bin ich eines Tages zu Gorbatschow gegangen und habe gesagt: Genosse, ich hätte für diese Unannehmlichkeit gerne eine Entschädigung. Ein frisches Glas Milch pro Tag. Gorbatschow lächelte nur.

Trotzdem haben Sie Jelzin unterstützt.

Wir hatten immer eine vernünftige Beziehung. Wahrscheinlich hat er nicht vergessen, dass ich der Einzige war, der ihn nach seinem Rausschmiss 1987 nicht mit Füßen getreten hat. Ich war damals Herausgeber der Zeitung "Moscow News" und stellte ihm eine volle Seite für ein Interview zur Verfügung. Gorbatschow gefiel das gar nicht. Als er mich darauf ansprach, sagte ich ihm nur: Ich bin Anti-Stalinist, und deshalb werde ich nie stalinistische Methoden gegen andere Menschen gut heißen. Wenn das Ihnen nicht passt, muss ich gehen.

Was hat Gorbatschow geantwortet?

Er schwieg. Es war ihm immer schwer, unangenehme Gespräche zu führen. Ich würde es mal so sagen: Er schonte seine Nerven.

Guten Tag[Sie schauen gerade Fernsehe], Herr Falin[Sie schauen gerade Fernsehe]

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