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Dunkle Aussichten. Immer wieder wird in Teilen von Tokio der Strom abgestellt. Im Norden benötige man ihn dringender, sagen die Menschen.

© dpa

Ausländer verlassen Japan: Verbrannte Erde

Viele Ausländer haben überstürzt das Land verlassen oder Zuflucht in Osaka gesucht. Explodierende Atomkraftwerke nahe Tokio, das erschien ihnen zu gefährlich. Vielleicht war das ein Fehler, denken sie jetzt, denn die Japaner fühlen sich verraten.

Sie musste weg, sie hat zwei Kinder. Die nahm sie, packte ein paar Koffer, wie lange sie fort bleiben würde, das wusste sie nicht, und bestieg ein Flugzeug nach Singapur. Es war das Vernünftigste, das sie tun konnte, sagte sie sich. Fliehen vor der radioaktiven Wolke, die vom havarierten Atomkraftwerk Fukushima nur wenige Stunden brauchen würde, um Tokio zu erreichen.

Heute denkt Frau S., eine gebürtige Deutsche, dass es ein Fehler war. Ein schlimmer Fehler. Was werden die Japaner von ihr denken, wenn sie zurückkehrt, um den Alltag in Tokio wieder aufzunehmen und dazuzugehören? Sie kann es sich denken, auch wenn man es ihr vermutlich niemals offen sagen wird. Darf sie mit Loyalität noch rechnen nach ihrer eigenen Illoyalität?

Herr L., der ebenfalls seinen Namen nicht in einer Zeitung lesen will, ist geblieben. Seine Frau ist Japanerin. Sie hätte ihre Familie zurücklassen müssen, das ging nicht. „Und selbst wenn es gegangen wäre“, sagt Herr L. „und wir die Familie mitgenommen hätten, wären die Nachbarn zurückgeblieben. Sie verstehen?“, fragt er. Ja, es gibt immer welche, die zurückbleiben. Gehen können nur die, die nicht dazugehören. Und während sich ausländische Firmen, darunter auch einige deutsche, in der Heimat für die Tatkraft feiern lassen, mit der sie ihre Mitarbeiter und deren Familien so schnell außer Landes und in Sicherheit geschafft haben, bekam Herr L. in Tokio eine Mail. „Danke, dass du hier geblieben bist. We love Japan.“

Schon die persönliche Anrede war ungewöhnlich. Ausländer lernen Japan in diesen schweren Tagen des Notstands von einer neuen Seite kennen. Mag das Land auch als Mitglied des exklusiven Kreises der G8-Staaten international vernetzt sein, derzeit befindet es sich in einer nationalen Gründungsphase. Das klingt an in der Erklärung von Ministerpräsident Naoto Kan, der eine Woche nach dem Erdbeben an seine Landsleute appelliert, „das Land wieder aufzubauen“. Und es drückt sich in einem Satz wie „We love Japan“ aus.

Herr L. hat lange überlegt, was damit wohl gemeint sei. Bis er begriff. „Wir beide sind es, die Japan lieben, das wollte mir der Geschäftsfreund mitteilen, und er meinte auch: die anderen eben nicht.“

Die Anderen, das sind jene, denen die eigene Sicherheit wichtiger ist. „Es wird für Ausländer sehr schwer nach ihrer Rückkehr“, sagt L. am Telefon. „Wenn sie den Bonus des Gastes ausnutzen, dann können sie danach nicht verlangen, wieder zum inneren Kreis zu gehören.“

Das gilt besonders für Ausländer in leitender Funktion, die nach japanischer Lesart ein Vorbild sind. Das ist, als wenn der Kapitän das sinkende Schiff als erster verlässt. Unter dem will nachher auch keiner mehr fahren. So hat ein Blogger das Problem erklärt. Und unter denen, die gegangen sind, aber zurückkehren wollen, macht sich nun die Sorge breit, wie viel verbrannte Erde sie hinterlassen haben.

Plötzlich stockt L.. „Warten Sie, jetzt wackelt es gerade wieder.“ Er kennt das schon. Das Haus, in dem er wohnt, wankt, die Telefonverbindung hat Aussetzer. 262 Nachbeben hat es in der Woche nach dem Tsunami gegeben. Dieses vom Samstag wird mit 6,1 auf der Richterskala gemessen. L. sagt, wenn es das große Beben nicht gegeben hätte, würde ihn das Klappern der Jalousien an seinem Fenster jetzt vielleicht stärker beunruhigen.

Seit 20 Jahren lebt L. in Japan. Er berät dort Unternehmen in heiklen Fragen, und wenn er eine Prognose abgeben müsste, wie es jetzt weitergeht, dann erwähnt er eine andere, vergleichsweise kleine Krise, die mit dem Anruf eines amerikanischen Familienvaters bei der Polizei in Südkalifornien begann. Der saß in einem Auto, das über den Highway raste. Er könne nicht mehr bremsen, sagte der Mann. Sekunden später war er tot, mit ihm drei weitere Insassen. Er hatte in einem Toyota Lexus gesessen. Der japanische Autokonzern geriet daraufhin im Sommer 2009 weltweit in die Kritik. 4,2 Millionen Fahrzeuge mussten wegen eines defekten Bremspedals zurückgeholt werden. Doch die Umsatzzahlen brachen nicht ein. Vor allem Japaner kauften nun Toyota.

„Verstehen Sie?“, sagt L. So werde es wieder laufen. Die Japaner werden sich noch intensiver auf sich selbst zurückziehen und ihre Stärke dadurch zurückgewinnen, dass sie heimische Produkte kaufen. „Denn die Menschen hier gehen fest davon aus, dass sie besonders sind.“

Trotzdem hat sich am Samstag eine Karavane von Pkws aus Tokio hinaus bewegt, Richtung Süden. Viele Hauptstädter nutzen das verlängerte Wochenende – Montag ist ein offizieller Feiertag – für einen Ausflug in die Normalität. „Aber sie werden alle wiederkommen“, glaubt L..

Im Südwesten, wohin es die Menschen massenhaft zieht, liegt auch Osaka. Bei der Reiseplanung von Japantouristen hat die 2,6-Millionen-Stadt bisher nie eine große Rolle gespielt. Sie ist nicht so aufregend wie Tokio und hat nicht so viele Tempel und Gärten zu bieten wie Kyoto. Doch seit dem Erdbeben am 11. März steht die laut Forbes-Liste „zweitteuerste Stadt der Welt“ hoch im Kurs. Ihr Vorzug: Sie ist mehrere hundert Kilometer entfernt von den kollabierenden Atommeilern in Fukushima, und sie hat einen Internationalen Flughafen.

„Es ist eigentlich eine logische Wahl, wenn man aus der Umgebung von Fukushima weg möchte, aber das Land nicht gleich verlassen will“, wird ein Amerikaner in einer lokalen Zeitung zitiert. So wie er haben viele Ausländer in der vergangenen Woche hier Unterschlupf gesucht. „Ich habe schon einige Familien gesehen, die ich von der Schule in Tokio kenne“, berichtet Melissa Lovric. „Für die Kinder ist es natürlich nett, miteinander spielen zu können. Unterricht verpassen sie ohnehin nicht, denn in Tokio sind alle internationalen Schulen geschlossen“, erklärt die Australierin.

Doch nicht nur Familien beobachten die Lage in Fukushima lieber aus sicherer Distanz, selbst Botschaften haben sich in die drittgrößte Stadt des Landes abgesetzt. Die Deutsche Vertretung zog am Donnerstag an die Osaka-Bay um. In einem Brief legte der Botschafter allen Landsleuten nahe, die im Osten Japans inklusive des Großraums Tokio wohnen, es ihm gleich zu tun. Am Bahnhof und Osakas Kansai-Airport stehen Beraterteams der Botschaft bereit. Die Hotels in der Stadt sind ausgebucht.

Auch etliche Japaner haben hier Zuflucht gesucht. Sie werden mit Verachtung gestraft dafür. „Das kommt überhaupt nicht gut an“, sagt Giles Cole, ein Brite, der ebenfalls noch ein Hotelzimmer in Osaka ergattert hat. Die Einheimischen, die mit ihm dort wohnten, würden als Feiglinge, als Fahnenflüchtige gelten, sagt er. „Denn sie lassen ihr Land im Stich, wenn sie am meisten gebraucht werden.”

Giles Cole ist seit vergangenem Donnerstag in Osaka. Mit Ausländern suche er keinen Kontakt. Das macht ihn nur verrückt. Jeder erzähle wilde Geschichten, die er irgendwo aufgeschnappt habe. Die Berichterstattung in ausländischen Medien schüre zusätzlich die Unsicherheit. „Das ist beinahe hysterisch, wie mit dem Thema umgegangen wird“, sagt Cole.

Ganz anders in japanischen Medien. Dass es bislang zu keiner Massenpanik gekommen ist, hält ein Experte für das Verdienst einer Presselandschaft, die sich stark deskriptiv auf Fakten konzentriert. Kaum jemals würden sich Reporter mit einer eigenen Einschätzung der Lage hervortun. Das ist auch der Grund, warum seit Tagen immer wieder neue, stets exakte Zahlen über Todesopfer verbreitet werden. Am Samstag war die Zahl der Toten auf 7320 angestiegen. Nicht, dass die Japaner genau wüssten, wie viele Menschen bei der Tsunamikatastrophe tatsächlich ums Leben gekommen sind, noch immer werden 11370 Personen vermisst, aber genannt wird nur, was auch belegt ist. Und der journalistische Kodex unter den in offiziellen Presseklubs organisierten Medien verbietet es, voreilige Schlüsse zu ziehen. Die Japaner glauben einer Zeitung wie der „Yomiuri Shimbun“, die zwei mal täglich erscheint mit einer Auflage von annähernd 14 Millionen Exemplaren, „denn was darin steht, ist wahr“, sagt der Experte.

Das Land hat in den vergangenen Tagen Pressekonferenzen der Regierung Kan erlebt, die nur auf Außenstehende gesittet wirkten. Die wichtigen Informationen werden üblicherweise vor und nach solchen Pressekonferenzen an die akkreditierten Journalisten weitergegeben. Dennoch wird damit kein Pakt geschlossen. Die Reporter reagierten zuletzt regelrecht pampig und äußerst ungehalten, als Regierungssprecher Yukio Edano nach einer Explosion im Meilerkomplex von Fukushima nichts weiter zu sagen wusste als: „Wir prüfen das noch“.

An einem Tag ohne Hiobsbotschaft versuchen die Menschen in Osaka und Tokio unterdessen ihr Leben weiterzuleben. Hin und hergerissen sind vor allem jene, die einen ausländischen Pass und einen einheimischen Ehepartner haben. „Meine Verwandten bitten mich inständig, doch endlich mit den Kindern zu ihnen zu kommen. Aber mein Mann ist strikt dagegen”, klagt eine Indonesierin in einer Mail an Freunde. Ihr Mann arbeitet in einem japanischen Ministerium. „Wenn er Tokio mit uns verließe, bräuchte er gar nicht wiederzukommen“, weiß seine Frau. Ihre Sorgen wegen der möglichen Strahlengefahr muss sie hintenan stellen.

„Wäre die Ursache nicht so schlimm, dann wäre Tokio jetzt eigentlich ganz angenehm“, berichtet Jesper Weber. Auch er hatte erwogen, fortzugehen. Nun macht er eine seltsame Erfahrung. Die Turbogesellschaft bremst sich ab. Japaner machen keine Überstunden mehr, man wird nicht überall von Neonreklamen geblendet und Supermärkte schließen bereits um 18 Uhr. Die Nahrungsengpässe würden längere Öffnungszeiten allerdings auch gar nicht rechtfertigen. Die Supermarktregale in Webers Nachbarschaft füllen sich zwar, aber Milchprodukte, Brot und Eier sind weiterhin knapp. Und die Kunden werden mit Hinweisschildern daran erinnert, jeweils nur eine Mineralwasserflasche zu kaufen.

Was passiert, falls doch noch eine radioaktive Wolke am Himmel über Tokio erscheint, mag sich Herr L. nicht vorstellen. Die Menschen, glaubt er, würden in die Häuser gehen, Fenster und Türen schließen, und abwarten, bis das Gift wieder abgezogen ist. „Nur eine offizielle Evakuierungsanordnung würde bewirken“, sagt L., „dass die Leute weggehen.“

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