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Die Angeklagte und ihr Anwalt Jochen Zersin stehen am Dienstag im Landgericht in Verden (Niedersachsen) im Verhandlungssaal. Weil sie sich nicht um eine sterbende Frau gekümmert haben, stehen seit Dienstag der Ehemann und die Tochter der 49-Jährigen wegen Mordes vor Gericht. Die Staatsanwaltschaft wirft ihnen Mord durch Unterlassen vor.

© dpa

Update

Verden in Niedersachsen: Frau verhungert im Wohnzimmer: Mordprozess gegen Mann und Tochter

Verdurstet, verhungert, wund gelegen - unter Qualen ist eine Frau zu Hause auf dem Sofa gestorben. Ihr Mann und ihre Tochter sollen absichtlich keine Hilfe geholt haben. Sind sie deshalb Mörder?

Die Tragödie spielt sich mitten im Wohnzimmer der Familie ab: Eine 49-Jährige verhungert und verdurstet langsam auf dem Sofa. Ihr Mann und ihre Tochter sind jeden Tag in dem Raum, sehen fern, übernachten dort. Um die hilflose Frau sollen sie sich nicht gekümmert haben. Tatenlos sollen die beiden zugeschaut haben, wie die Frau über Wochen an Schmerzen leidet und langsam stirbt. Die Geschichte, die Staatsanwältin Annette Marquardt am Dienstag im Landgericht Verden erzählt, klingt unfassbar. Doch nach Ansicht der Ermittler soll es sich genauso bei der Familie zugetragen haben.

Ende Januar stürzt die alkoholkranke 49-Jährige in der Wohnung und bricht sich die linke Hüfte. „Sie war darauf angewiesen, dass die Angeklagten sie versorgten“, sagt Marquardt. Die beiden hätten weder einen Arzt gerufen noch ihr ausreichend Wasser und Essen gebracht. Mord durch Unterlassen wirft Marquardt dem 50-Jährigen und seiner 18 Jahre alten Tochter deshalb vor. Die beiden Angeklagten äußern sich zu den Vorwürfen am ersten Verhandlungstag nicht. In Handschellen betreten Vater und Tochter den Gerichtssaal. Mit einer dunklen Jacken verbirgt der Mann sein Gesicht vor den Kameras. Die 18-Jährige hat einen dicken Wollschal bis über die Augen gezogen, eine Kapuze bedeckt die langen braunen Haare. Erst als der Richter sie darum bittet, setzt sie diese ab. Tränen laufen ihr übers Gesicht. Mit leiser Stimme antwortet sie auf die Fragen des Richters, den Schal weit über die Ohren gezogen, als wolle sie darin verschwinden.

Ihr Rücken sei offen gewesen, das Sofa von Urin durchtränkt

Die 18-Jährige erzählt, wie sie immer wieder die Schule geschwänzt habe, weil Mitschülerinnen sie terrorisierten und schlugen. Über ihre Mutter will sie an dem Tag nicht reden. Auch ihr Vater, ein schmaler Mann mit grauem Haar und Schnauzer, will nicht über das Familienleben sprechen. Nach Ansicht der Staatsanwaltschaft haben die beiden jahrelang unter der Alkoholsucht der 49-Jährigen gelitten. Dafür sollen sie sich dann gerächt haben, als die Frau auf die beiden angewiesen war. Als diese im März nach wochenlanger Qual gestorben sei, habe sie nur noch 26 Kilo gewogen, sagt Marquardt. Ihr Rücken sei offen gewesen, das Sofa von Urin durchtränkt. Noch am Tag des Todes hätten Ärzte die Frau retten können. Doch ihr Mann und ihre Tochter sollen absichtlich keine Hilfe geholt haben. Mord aus niedrigen Beweggründen, wie die Staatsanwaltschaft meint? Die Verteidigung weist diese Vorwürfe zurück.

Dass der 50-Jährige und die 18-Jährige die Frau töten wollten, könnten die Ermittler nicht beweisen, sagt Verteidiger Jochen Zersin. Die 49-Jährige habe sich schon länger nicht mehr helfen lassen. „Die Frau war aufgrund ihrer Alkoholabhängigkeit im Ort isoliert.“ Sie sei immer stärker abgemagert, habe das Haus nicht mehr verlassen und habe sich geweigert, zum Arzt zu gehen. Einmal sei sie sogar gewalttätig geworden, als ihre Tochter sie zum Arzt habe bringen wollen. Dass sich in jenen Wochen eine Tragödie im Wohnzimmer der Familie abgespielt hat, ist sicher. Ob es wirklich Mord war, das müssen die Richter klären. Wie die Situation in der Familie zu dem Zeitpunkt tatsächlich war, wird dabei eine wichtige Rolle spielen. Die Verteidigung fordert, dafür weitere Zeugen zu laden, darunter auch den Hausarzt der Frau. (dpa)

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