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Panorama: Verkehrslawine am Brenner: Nur ein Rauschen aus dem Tal - Aus der Sicht eines Tiroler Jägers

Das Rauschen ebbt nie ab. Mal schwillt es ein wenig an, wie wenn plötzlich mehr Wasser den Wildbach hinabflösse.

Das Rauschen ebbt nie ab. Mal schwillt es ein wenig an, wie wenn plötzlich mehr Wasser den Wildbach hinabflösse. Dann wieder zieht es sich zurück, wird leise und klingt nach weit entferntem Wellenschlag des Meeres. Selbst in der Nacht bleibt es nicht eine Sekunde lang still am Brenner. Mit Rauschen im Ohr schläft man hier ein, mit Rauschen wacht man wieder auf - mit dem Rauschen der Räder auf Asphalt, ehe die Tunnelröhre der Autobahn oben am Pass alle Laster und Personenkraftwagen verschluckt.

Gleich hinter dem alten italienischen Zollamt steht Ferdinand Plattner auf einer kleinen, steil abfallenden Wiese und zerschneidet mit seiner Sense das monotone Rauschen in gleichmäßige Stücke. In der blauen Tirolerschürze steckt sein Schleifstein. Scht-scht-scht, macht die Sense und Plattner sagt: "Eingesackt haben sie hier das Geld mit beiden Händen. In Plastiktüten haben sie es abends heimgetragen." Scht-scht-scht.

Die Grasbüschel hängt Plattner an ein Drahtgestell zum Trocknen. Heu für die Rehe im Winter. Selbst oben auf dem Wolfendorn oder auf dem Sattelberg, weit mehr als 1000 Meter über der Brennerfurche, hört der Jäger Plattner auf der Pirsch noch dieses Rauschen aus dem Tal herauf. Es ist, als sollten Plattners Ohren nie vergessen, dass man sein Elternhaus, in dem er 1938 geboren wurde, abgerissen hat. Der "Ralserhof" stand der Autobahn im Weg.

Nirgendwo wird Segen und Fluch des Verbrennungsmotors so sichtbar wie in jenem Dorf, das man, um es vom "Brennerpass", vom "Brennersee" und vom "Brennerbad" zu unterscheiden, ganz einfach "Brennerort" genannt hat. "Brennerort", als müsse der Namen ständig bestätigen, dass es ihn wirklich gibt. Wie hatte man sich hier in den 60er Jahren gefreut, als immer mehr Individualreisende mit heißen Motoren die Straße heraufkrochen. Die Autos brauchten Sprit und Öl, die Fahrer und Beifahrer Erfrischungsgetränke und Reiseproviant. "Eingesackt haben sie das Geld mit beiden Händen". Ein Laden neben dem anderen eröffnete, ein Cafe nach dem anderen. Bald hatte "Brennerort" die Einwohnerzahl einer Marktgemeinde. Die "Brennerer" waren reiche Leute. Die Gemeinde hatte das höchste Steueraufkommen pro Kopf in Südtirol.

Im selben Jahr fing man damit an, die Lastwagen zu zählen, die über die Passstraße keuchten. 150 000 sollen es damals gewesen sein. Man hielt das für viel. Heute sind es 1,7 Millionen, die auf der Autobahn vorbei rauschen. Am Brennerort hält schon längst keiner mehr an. Seit der Bau der Autobahn 1968 das Dorf vom Geldsegen abschnitt und schließlich: seit Italien und Österreich ihre Zöllner abzogen, ist Brennerort zu einem Gespensterort geworden. Es sollen noch etwa 250 Menschen am Pass wohnen. Nachts ist es hier wie ausgestorben.

Niemand will hier mehr Urlaub machen. Der Sessellift rostet vor sich hin, und die Tannen wachsen schon bis zu den alten Stahlseilen hinauf. Das einzige noch verbliebene Hotel am Ort hat Schallschutzfenster.

Für 29 Stunden ist nun die Ruhe an den Brenner zurückgekehrt. Für diese Zeit, von Freitag 10 bis Sonnabend 15 Uhr, ist der Verkehr auf der Autobahn blockiert. Die Sperrung der wichtigsten Alpenüberquerung durch das Tiroler "Transit-Forum" findet nun zum dritten Mal statt und gleicht inzwischen einem gut eingespielten Ritual: Im Vorfeld verteidigt der Tiroler Landeshauptmann Wendelin Weingartner die Blockade als Ausdruck des Bürgerprotestes gegen nicht eingehaltene Versprechungen der EU. Der EU-Kommissar für Verkehr und der deutsche Verkehrsminister wiederum sprechen von einem "illegalen Akt".

Der Sprecher des Transit-Forums, Fritz Gurgiser, trat auch dieses Jahr wieder vor die Fernsehkameras. Doch diesmal klang seine Erklärung noch eine Spur wütender als in den Vorjahren: Er drohte neue, "unangekündigte Blockaden des Brenners" an.

Leider haben die Schadstoffmessungen der vergangenen Monaten nicht die Dramatik ergeben, die das "Transit-Forum" für die Zunahme des LKW-Verkehrs vorausgesagt hatte. Das liegt auch daran, dass vor allem westeuropäische Spediteure ihren Fuhrpark stark modernisiert haben. Heute stößt ein Dieselmotor nur noch ein Fünftel an Stickoxid aus wie sein Vorgänger vor zehn Jahren.

Ferdinand Plattner, dessen Elternhaus sie für den Bau der Autobahn abgerissen haben und der vom Brennerort mehr als 1000 Meter den Berg hinaufsteigen muss, um das Rauschen der Laster nurmehr als leisen Klang vom Tal herauf zu hören, hat ein merkwürdig unbeteiligtes Verhältnis zu den Protesten: "Mei", sagt er, "man kann die Entwicklung eben nicht aufhalten." Er nimmt die Lawine der Fahrzeuge, die sein Hochtal überflutet, hin wie eine Naturkatastrophe, der man nicht entrinnen kann. Nein, er wird nicht an der Blockade teilnehmen. Er wird Gras schneiden an diesem Tag mit seiner Sense. Scht-scht-scht. Dort oben, wo er demnächst wieder jagen gehen wird, kurz unter dem Gipfel des Sattelberges, steht eine kleine Berghütte, die ein deutscher Künstler vor Jahren als "Eremiten-Bibliothek" ausstattete. Mitten in der Einöde der Stubaier Alpen liegen hier philosophische Werke aus. Den Schlüssel für die Hütte erhält man in der Bahnhofsbar vom Brennerort. Er wurde seit vielen Monaten nicht mehr ausgeliehen.

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