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Waldbrände in Russland: Wie gefährlich ist die Lage in atomar verseuchten Gebieten?

Die schwersten Waldbrände der russischen Geschichte haben die radioaktiv verseuchten Gebiete des Landes erreicht. Alles unter Kontrolle - heißt es dennoch aus Moskau.

Der Ernstfall scheint einzutreten. In 27 russischen Regionen wurde der Notstand ausgerufen, und die Behörden tagen in Dringlichkeitssitzungen, weil sich die Waldbrände den russischen Atomanlagen am Ural nähern.

Wie groß ist das Risiko?

Im Ural sitzt die nukleare Rüstungsindustrie. Hier, im Niemandsland rund um die Millionenstädte Jekaterinburg und Tscheljabinsk, liegen die „Geschlossenen Städte“ Osersk, Nowouralsk, Sneschinsk und Lesnoj. Zu Sowjetzeiten waren sie auf keiner Landkarte verzeichnet. Eingeschlossen von Hochsicherheitszäunen und bewacht von bewaffnetem Sicherheitspersonal, haben sie die Sowjetunion einst zur atomaren Supermacht hochgerüstet. Im Dienst der nuklearen Abschreckung wurde hier, unbehelligt von Umweltauflagen oder Anwohnerrechten, geforscht, montiert und angereichert. Und so wird in manchen Waldgebieten vor Hotspots gewarnt: hoch strahlenbelasteten Kleinstpartikeln, die sich, wenn sie über die Nahrungskette oder über die Atmung aufgenommen werden, im Körper ablagern und schwere Gesundheitsschäden verursachen können.

Die Brände könnten den belasteten Waldboden mit dem Rauch hochtreiben oder beim Löschen ins Grundwasser spülen, fürchten Experten. Das könne in den Nachbarregionen zu einer Erhöhung der Strahlenwerte führen. Zu einer erneuten Freisetzung von Radioaktivität käme es aber nur dann, wenn die Brände auf das Betriebsgelände einer Kernanlage überspringen und dort im Reaktor oder in einem Nuklearmateriallager eine Explosion oder Havarie verursachen. Unabhängige russische Strahlenexperten und Einwohner von Osersk sind jedoch nicht sonderlich beunruhigt: Waldbrände seien in dieser Gegend nicht ungewöhnlich, entsprechend routiniert seien die Einsatzkräfte. Zudem schirmen das Stadtgebiet von Osersk und ein See das Betriebsgelände von den Waldgebieten ab.

Welche Atomanlagen sind betroffen?

Die Brände nahe der Kernforschungsanlage in Sneschinsk seien unter Kontrolle, heißt es. Bedroht ist aber weiterhin die Kerntechnische Anlage Majak („Leuchtturm“) in der Stadt Osersk im Regierungsbezirk Tscheljabinsk, ein nukleares Gewerbegebiet mit mehr als 10 000 Beschäftigten. Zu Sowjetzeiten war es die wichtigste Produktionsstätte für Waffenplutonium, heute gibt es hier eine Wiederaufbereitungsanlage. Vor allem aber ist Majak ein zentraler Umschlagplatz für waffenfähiges Spaltmaterial und eine der weltgrößten Lagerstätten für Atommüll. Was hier genau lagert, unterliegt dem Militärgeheimnis, Experten gehen aber von Dutzenden Tonnen Plutonium und mehreren hundert Tonnen hoch angereichertem Uran aus.

Majak ist berüchtigt für die Nuklearsünden, die hier in den 50er und 60er Jahren begangen wurden, bis heute zählt das Betriebsgelände zu den am stärksten radioaktiv belasteten Orten der Erde. Hier ereignete sich 1957 die schwerste Atomkatastrophe vor dem Tschernobyl- GAU: Nach der Explosion eines Tanks mit hoch radioaktivem Atommüll verstrahlte eine radioaktive Wolke 20 000 Quadratkilometer. Außerdem leitete die Werksleitung damals radioaktive Abfälle ungefiltert in den Fluss Tjetscha, aus dem die 120 000 Bewohner der Region teilweise ihr Trinkwasser bezogen. Heute sind die Flussanwohner die am besten untersuchten Strahlenopfer.

Durch die Wald- und Steppenbrände sind nach Informationen der norwegischen Umweltorganisation Bellona, die vor allem in Russland tätig ist, derzeit vier Atomkraftwerke gefährdet. Die Anlagen in Nowoworonesch, etwa 42 Kilometer südlich der Stadt Woronesch, sind umgeben von Waldbränden. Nach Angaben der Betreiberfirma Rosenergoatom besteht keine unmittelbare Brandgefahr für die Anlagen. Allerdings ist wegen der extremen Hitze einer der Transformatoren, über den der Strom ins Netz eingespeist wird, am 4. August ausgefallen. Eine der Anlagen wurde daraufhin automatisch zwangsabgeschaltet. Am 5. August war sie jedoch wieder am Netz.

Obwohl im Waldbrandgebiet die Stromnetze teilweise zusammengebrochen sind, produzieren die Atomanlagen nach Behördenangaben weiter Strom. Das könnte aber problematisch werden, wenn das Netz in größerem Umfang ausfällt. Können die Atomkraftwerke den Strom nicht ins Netz speisen, müssen sie abgeschaltet werden. Bellona sieht jedoch durch die Hitzewelle für alle Anlagen erhöhte Risiken. Denn alle Anlagen müssen mit Wasser aus den umliegenden Flüssen oder Seen gekühlt werden. Das Kühlwasser ist aber bereits 30 Grad warm. Steigt die Wassertemperatur weiter, kann es die Reaktoren nicht mehr kühlen, die Anlagen müssen vom Netz.

Was wird in Russland gelagert und produziert?

Derzeit produzieren zehn Atomkraftwerke mit 31 Reaktoren rund 16 Prozent des russischen Stroms. Dazu kommen Atomforschungsanlagen, Atomwaffenlagerstätten sowie Wiederaufarbeitungsfabriken, in denen Atommüll sowie ausgediente Atomsprengköpfe zu Mischoxid- Brennelementen für die zivilen Nuklearanlagen gemacht werden.

Können die Brände eine radioaktive Wolke auslösen?

In Moskau sei keine erhöhte Radioaktivität festgestellt worden, sagten leitende Mitarbeiter des Kernforschungsinstituts Radon. Zuvor war bekannt geworden, dass sich die in Zentralrussland wütenden Waldbrände auch auf die Region Brjansk im Südwesten ausgedehnt haben. Dort waren nach der Reaktorkatastrophe im April 1986 im Kernkraftwerk Tschernobyl große Mengen radioaktiven Staubs niedergegangen. Sie, so hatte Katastrophenschutzminister Sergej Schoygu bereits am Freitag gewarnt, könnten durch den Sog, der bei Flächenbränden entsteht, aufgewirbelt und erneut in die Atmosphäre gelangen. Nach Informationen des deutschen Bundesamts für Strahlenschutz (BfS) enthalten aber auch die Bäume in dem Gebiet große Mengen Cäsium 137, das in Tschernobyl frei geworden war. Brennen die Wälder, können auch diese radioaktiven Partikel wieder in die Luft geraten. Allerdings sagt BfS-Sprecher Florian Emrich, dass die Aschewolke eines Waldbrandes lediglich 200 bis 300 Meter hoch steige und damit die Auswirkungen „regional begrenzt“ bleiben dürften. Bei der Explosion des Atomkraftwerks in Tschernobyl war das radioaktive Material bis zu 1500 Meter hoch geschleudert worden. So konnte sich die radioaktive Wolke über ganz Europa ausbreiten. Sollte doch Radioaktivität bis nach Deutschland transportiert werden, würde das durch ein bundesweites Messnetz schnell bemerkt werden.

Wie schlimm sind die Auswirkungen in der verseuchten Region?

Vor neun Jahren hat die Gesellschaft für Reaktor- und Anlagensicherheit untersucht, welche Folgen die häufigen Wald- und Steppenbrände rund um Tschernobyl haben könnten. Gunter Pretzsch, der an der Untersuchung beteiligt war, sagte dem Tagesspiegel, dass die Brandpartikel größer seien als diejenigen, die durch die Tschernobyl-Katastrophe frei geworden waren. Sie würden allenfalls von Brandbekämpfern eingeatmet werden. Und selbst dann würde die Strahlenbelastung derjenigen, die den Dämpfen etwa acht Stunden am Tag ausgesetzt seien, weit unterhalb der Jahresgrenzwerte für Radioaktivität liegen. Außerdem sei ein Teil des radioaktiven Materials um Tschernobyl bereits zerfallen, in der Region Brjansk werde zudem Landwirtschaft betrieben. Damit werde die Radioaktivität auch verteilt und sozusagen verdünnt.

Wo die radioaktiven Partikel niedergehen, hängt von der Wetterlage ab. Der Wind wehte in den vergangenen Tagen vor allem aus Südost, daher konnten sich die Brände aus den Regionen im Süden und Osten von Moskau auch auf die Grenzgebiete zur Ukraine ausbreiten.

Welche Gefahren drohen außerdem?

Nach Informationen der Umweltorganisation Wetlands International brennen in Russland derzeit rund 500 Hektar Torf- und trocken gelegte Sumpfgebiete. Diese Brände setzen in etwa die zehnfache Menge Kohlendioxid (CO2) frei wie normale Waldbrände. Die Torfbrände setzen zudem kleinste Feinstaubpartikel frei, die sich in den Lungen absetzen und dort bleiben. Das Risiko für Atemwegserkrankungen und Lungenkrebs steigt.

Hier finden Sie sie aktuellen Werte der Radioaktivität.

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