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Stadt, Land, Frust. Es war so schön in Vancouver. Doch das alte Leben ist kein Schuh, in den man einfach so schlüpfen kann, wenn man ihn länger nicht mehr getragen hat. Was bleibt, sind die Erinnerungen an eine unwiederbringliche Zeit. Und Fotos, die Jacqueline (unten auf dem Thron) mit Freunden zeigen. Fotos: Reuters, privat

© REUTERS

Austauschjahr: Blick zurück nach vorn

Ihr Austauschjahr verbrachte unsere Autorin in Kanada. Nun war sie wieder dort – und wurde enttäuscht.

Zwischen mir und meinem alten Leben liegen knapp anderthalb Jahre und 8200 Kilometer Luftlinie. Das ist die Distanz zwischen Berlin und Vancouver in Kanada. Dort habe ich einst ein Austauschjahr verbracht, von dem ich im Sommer 2010 heimgekehrt bin. Seither wird die Erinnerung an dieses Jahr mit jedem Tag schwammiger. Über die Fotos aus dieser Zeit scheint sich allmählich ein Sepia-Schleier zu legen.

Deshalb habe ich beschlossen, in den Ferien nach Vancouver zurückzukehren, für die Dauer von zwei Wochen meinem alten Leben einen Besuch abzustatten. Inklusive nächtlichen Spontantreffen mit früheren Freunden im Coffee-Shop, Strandspaziergängen, Kinobesuchen, Partys und Einkaufstouren. In Gedanken habe ich mir meinen Kanada-Aufenthalt in den schillerndsten Farben ausgemalt.

Die Realität holt mich bereits kurz nach der Ankunft ein; ich lande buchstäblich auf dem Boden der Tatsachen. Mein Koffer ist verschwunden und bleibt es für anderthalb Stunden – er war offenbar auf dem falschen Gepäckband gelandet. Na dann: Willkommen in Kanada!

Am Ausgang wartet ein Freund auf mich, Tyler, mit dem ich einst viel Zeit verbracht habe. Genervt vom langen Warten lehnt er an der Wand; seine Mine hellt sich erst auf, als er mich erblickt und wir uns in die Arme fallen. Auf dem Weg zu seinem Auto stelle ich fest, dass er sich äußerlich verändert hat. Er wirkt jetzt älter, sieht muskulöser aus und irgendwie nachdenklicher. Wie viel wohl noch von dem unbeschwerten „Sunny Boy“ in ihm steckt, den ich in Erinnerung habe?

Ich kann es nicht herausfinden, denn nachdem mich Tyler bei meiner Gastfamilie abgesetzt hat, zieht er sofort weiter. Dafür empfangen mich meine früheren Gasteltern überschwänglich und wollen natürlich sofort auf den neuesten Stand gebracht werden. Wir sind so sehr in das Gespräch vertieft, dass ich fast zu meinem Treffen mit Alis, Stella und Mara zu spät komme, meinen besten Freundinnen von der Highschool.

Als ich vor anderthalb Jahren nach Berlin zurückgekehrt bin, haben wir uns die Treue gehalten, per Mail und Skype; letzteres war aufgrund der Zeitverschiebung schwieriger. Nun sitzen wir in unserem Lieblingscafé, in dem sich nichts verändert hat, nicht mal die Bedienung. Doch die guten alten Zeiten lassen sich nicht per Knopfdruck wiederherstellen. Die Distanz, die anderthalb Jahre räumliche Trennung trotz virtuellen Kontakts hinterlassen haben, lässt sich eben nicht innerhalb von drei Cappuccino und zwei Stunden überbrücken. Zumal Alis müde ist, Mara zu ihrem Ferienjob muss und Stella zu ihrem Freund.

Enttäuscht fahre ich heim. Enttäuscht von meinen Freunden, die mich scheinbar nicht sehnsüchtig erwartet haben. Enttäuscht von mir selbst, weil ich geglaubt hatte, dass ich in mein altes Leben schlüpfen könnte wie in Schuhe, die man eine Weile nicht mehr getragen hat. Doch diese Schuhe drücken hinten und vorne, sind mit einem Mal völlig unbequem. Vielleicht sogar untragbar? 

Ich muss an einen Spruch denken, dem ich bis jetzt nicht viel Beachtung geschenkt habe und den meine kanadischen Lehrer gebetsmühlenartig wiederholt haben: „Mit dem Verlassen der Highschool wird sich alles ändern.“ Das stimmt tatsächlich, nur dass es mich eher trifft als meine ehemaligen Mitschüler. Ich bin nicht mehr Teil ihres Zirkels, kann mich an ihren Gesprächen nur mühsam beteiligen. Einfach weil ich den schweren Mathe-Test vor zwei Wochen nicht mitgeschrieben und auch keine Meinung zu den neuen Pärchenkonstellationen habe.

Die nächsten Tage bin ich weitestgehend auf mich allein gestellt. Ich mache Dinge, die ich schon immer mal machen wollte, für die ich aber während meines Highschool-Jahres keine Zeit gefunden habe. Etwa ins nahe gelegene Schwimmbad gehen, das man auch gut mit den öffentlichen Verkehrsmitteln erreichen kann. Kaum hat sich der Skytrain, eine Art S-Bahn, in Bewegung gesetzt, flackern vor meinem inneren Auge längst vergessen geglaubte Bilder auf, während Vancouver am Fenster vorbeihuschte. Zum Beispiel von Kyle, mit dem ich einst im Bus durch die Stadt fuhr und der aus heiterem Himmel zu singen anfing – sehr zum Ärger der Fahrgäste um uns herum, die jede Gelegenheit zur Flucht auf einen der hinteren Plätze nutzten. Oder von Megan, die angespannt auf dem Weg zu ihrem ersten Tattoo war. Ich musste an Nicole denken, die gerne zu sagen pflegte: „Wenn man den Blick in die Ferne schweifen lässt, wird man melancholisch werden.“ Wie recht sie hat.

Ich schließe die Augen für einige Sekunden – in der Hoffnung, die sich aufdrängenden Bilder meines unbeschwerten Auslandsjahres für einige Minuten zu vergessen und im Jetzt anzukommen. Unmöglich. Der Skytrain passiert die Hafengegend und hält kurz darauf an. Es ist die Station, an der ich einst ausgestiegen war auf dem Weg ins Kino, zu einem Date.

Die Graffitis an den Bahnsteigwänden sind immer noch da. Auch das kleine Herz auf der Rückseite des Bahnsteigpfeilers. Auf dem Heimweg vom Kino hatten mein Date und ich es in einem Anfall von verliebtem Leichtsinn dort hinterlassen. Später hat jemand einen Spruch hinzugefügt:„Forever young!“ Ich muss beim Lesen lächeln. Nach allem, was ich in diesen Ferien gelernt habe, ist es nicht erstrebenswert, für immer jung zu bleiben, wenn um einen herum alle älter werden.

Jacqueline Möller

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