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© Mike Wolff

Panorama: Die Narben bleiben

Chrissy, 23, hat vier Suizidversuche hinter sich. Jetzt startet sie ins Leben – und kämpft weiter

Ihre Stimme ist zart, fast zerbrechlich. Doch auf der Bühne wird sie plötzlich ganz kräftig und all ihre Unsicherheit scheint verschwunden: Chrissy singt Jazz-Pop-Songs mit kleiner musikalischer Begleitung, ganz melancholische Songs voller Hingabe für ihr Innenleben. Wenn sie auf der Bühne steht, strahlt sie ihr Publikum an. Und wenn sie lächelt, kann sie verzaubern.

Wir treffen Chrissy, 23, am Mittwoch in dem Jugendzentrum „Pumpe“ in der Schöneberger Lützowstraße. Dort feiert der Verein „Neuhland“ sein 25-jähriges Bestehen und hat die Veranstaltung bewusst auf den 10. September gelegt: Es ist der Weltsuizidpräventionstag.

Der Verein kümmert sich um Jugendliche in Krisensituationen, bietet therapeutische Gespräche an, und in Notsituationen steht Jugendlichen eine Krisenwohnung zur Verfügung. Viele der Jugendlichen haben oder hatten suizidale Gedanken.

Auch Chrissy kennt diesen Gedanken, trug ihn jahrelang mit sich herum. Alles fing an, als sie 16 wurde. Chrissy mochte sich nicht, fühlte sich von den Eltern alleingelassen, wurde depressiv und verletzte sich selbst. Sie schnitt sich immer wieder in die Arme. Und wenn die Verletzungen zu schwerwiegend waren oder sie sich einsam fühlte, nicht mehr weiter wusste, flüchtete sie ins Krankenhaus. „Für viele ist das ein Ort, von dem sie schnell wieder weg wollen. Ich fühlte mich dort aber wohl, respektiert und geborgen.“ Anders als zu Hause, dort gab es viel Streit und Chrissy fühlte keinen Rückhalt in ihrer bayerischen Heimat: „Ich wollte eigentlich eine Therapie machen, aber ich bekam in meinem Umfeld keine Hilfe“ Das erhöhte den Druck, den sie eh schon als enorm empfand, nur noch mehr.

Mit 20 zog sie aus Bayern nach Berlin. „Ich musste von dort weg, ich fühlte mich alleine und musste etwas Neues beginnen.“ Sie hatte ihren Freund, die erste große Liebe, in Berlin und daher war es logisch, dass sie hierher kam. Doch in Berlin ging es ihr nicht besser, sie fühlte sich genauso einsam und traurig wie vorher. „Ich begann damals eine Ausbildung als Zahnarzthelferin, doch das hat mich gestresst.“

Wenn Chrissy „gestresst“ sagt, meint sie nicht das, was wir darunter verstehen: Sie war nicht vom Frühaufstehen genervt, sondern vom täglichen Druck. Für sie war damals der Alltag eine Tortur, da sie sich schwach fühlte, wenig selbstbewusst war und ihre Grenzen nicht kannte. „Daran wäre ich fast zerbrochen, denn ich war ein sehr unsicherer Mensch, der sich nicht durchsetzen konnte und innerlich fast daran kaputtgegangen wäre. Aber nach außen hin habe ich gestrahlt.“ Als sie das sagt, lächelt sie wieder wie auf der Bühne. Ist das ihr Selbstschutz, ihre Maske?

Die Ausbildung sollte eigentlich der Weg aus ihrer Krise sein, doch nach dem Abbruch der Ausbildung wurde es nicht wirklich besser: Um die Tristesse zu vergessen, kiffte sie – und das jeden Tag, in hohen Dosen. „Ohne die Droge fühlte ich mich verletzlich und einsam, mit dem Zeug schaffte ich mir einfach meine Harmonie“, sagt sie ganz nachdenklich. In diesem Moment greift sie zu ihrem Tabak und den Blättchen und dreht sich eine Zigarette.

In Berlin hatte sie drei Suizidversuche: eine Überdosis Tabletten und Schnitte in die Pulsadern. Ihren ersten Versuch hatte sie noch zu Hause in Bayern mit 17. „Das waren meine letzten Hilferufe.“ Nach jedem Versuch ging sie ins Krankenhaus. Immer wieder erzählt sie von den Krankenhausaufenthalten. „Ich bin sehr oft dorthin geflüchtet, denn dort hatte ich wenigstens Gesprächspartner. Mit meinem Therapeuten habe ich jetzt aber einen Vertrag vereinbart, dass ich mich nicht mehr einweise, nicht mehr flüchte. Ich will mich heute mit meinen Problemen konfrontieren.“

Das hat sie durch Neuhland gelernt. Als sie nach der Ausbildung in die Drogenscheinwelt flüchtete, ihre Suizidversuche und die vielen Krankenhausaufenthalte hatte, zog sie in die therapeutische Wohngemeinschaft des Vereins in Wilmersdorf. „Ich habe dort einen geregelten Ablauf gehabt, es war immer jemand da und ich durfte nicht einfach wegbleiben.“ Sie redet plötzlich mit kräftiger Stimme – fast wie zuvor auf der Bühne. Und dann hält sie für einen Augenblick inne, denkt nach und sagt: „Aber selbst, als ich von 2006 bis Dezember 2007 dort wohnte, ging ich immer wieder ins Krankenhaus, wenn es Probleme in der WG gab.“

Seit Beginn des Jahres wohnt sie alleine. Sie hat eine kleine Wohnung in Kreuzberg, ist gerade arbeitslos und versucht jetzt mit voller Kraft, ins Leben zu starten. In ein Leben ohne Suizidversuche und Krankenhausaufenthalte. Aber eines weiß sie: „Ich bin Borderlinerin und die Unsicherheit, der Drang mich zu verletzen – beides wird bleiben.“ In zwei dauerhaften Therapien kämpft sie dagegen an. Als nächstes will sie einen Ausbildunggsplatz als Bürokauffrau finden. „Ich versuche endlich ein ganz normales Leben führen. Ich musste halt viel lernen“ Und sie weiß ganz genau, dass es viel von ihr und ihren Kräften abverlangen wird. Aber sie hat diese Kraft. Da unterstützt sie auch ihr Freund, mit dem sie jetzt schon einige Jahre zusammen ist.

„Außerdem habe ich ein gutes Ventil.“ Und jetzt strahlt sie richtig: „Ich habe meine Musik.“

Ric Graf

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