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Panorama: Go West!

Alle sagen, das alte Berlin gibt’s bald nicht mehr. Unsere Autorin hat es trotzdem gefunden

Es war nackte, kalte Panik, die mich plötzlich ergriff, nachdem ich das schnurlose Telefon wieder in seine Halterung zurückgestellt hatte. Eine Redakteurin des Tagesspiegel hatte mich soeben um einen Text über den Untergang des alten West-Berlins gebeten. Also Untergang hatte sie nicht gesagt, aber wohl so etwas Ähnliches und mein Unterbewusstsein programmierte mich schlagartig auf jenes Gefühl, dass viele bei Sonderangeboten überkommen mochte und dass mich zum Glück immer verschont hatte. So ungefähr wie: Ich muss da jetzt sofort hin, sonst gibt es nichts mehr. Oder auch: Ich muss da jetzt auf der Stelle hin, sonst lassen die mich nicht mehr rein. In meinem Kopf rief es nur noch „abgeriegelt, vermauert, zugenagelt“, und ich kann gar nicht mehr mit Sicherheit sagen, ob es Genugtuung oder Mitleid war, was mich ergriff.

Nur Sekunden später nahm ich das schnurlose Telefon wieder aus der Halterung und rief meine Freundin Olivia an, die meine letzte Freundin in West-Berlin gewesen war. Seit sie nun nur einen Steinwurf entfernt, wie man so schön sagt, von der Kastanienallee, seit Olivia also in Mitte wohnt, hatte für mich der letzte Grund nach Charlottenburg zu fahren, aufgehört zu existieren. Nun sollte sie mich auf einen spontanen Ausflug in ihren alten Kiez begleiten, ganz allein wollte ich dem Sterben West-Berlins nicht zusehen, aber wie immer, wenn man Freunde wirklich braucht, Olivia ging nicht ans Telefon.

Schon lange war ich nicht mehr in dem kulturellen Zentrum der Stadt gewesen, von dem die ehemalige Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer gerade in der „Zeit“ geschrieben hatte, es sei dabei, unaufhörlich und unbemerkt unterzugehen. Antje Vollmer klagt, die Freie Volksbühne stünde leer; die Deutsche Oper sei schlecht; die Schaubühne auch; die Akademie der Künste nun in einem sterilen Glasbau am Pariser Platz, statt wie vordem im Hansaviertel; die Berlinale am Potsdamer Platz; die Paris Bar insolvent; die Ku’damm-Bühnen in Kürze dicht; der Bahnhof Zoo bald nicht mehr als eine S-Bahn-Station; das Schiller-Theater, das Café Mörike und das Kranzler schon längst beerdigt. Und die Krönung det Janzen: Burger King im Berlin-Pavillon auf der Straße des 17. Juni!

Und auch ich gebe zu, dass der alte Westen mir in letzter Zeit nurmehr in den Erzählungen meines Freundes Rüdiger begegnet war, der gerade aus Frankfurt am Main zugezogen, zwar unbedingt im Prenzlauer Berg wohnen möchte, sich aber im Osten noch nicht auskennt und so für jede Besorgung in den Westteil der Stadt fährt. Wurst und Käse kauft er im KaDeWe, sein Baumarkt liegt in Wilmersdorf und seine Liebste führt er bei Kerzenschein ins Ottenthal. Gerade gestern erzählte er mir, wie toll er die Galeries Lafayettes findet, er war jetzt doch mal da.

Die Fahrt vom Hackeschen Markt bis zum Bahnhof Zoo dauerte mit der S-Bahn gerade einmal atemberaubende neun Minuten. Netto. Doch auch wenn man die Reise sogar mit einem Kurzstreckenticket der BVG absolvieren könnte, es bleibt, brutto betrachtet, ein Trip in eine andere Welt. Ich lief durch die Straßen um den Savignyplatz, und sofort umhüllte mich wieder jenes seltene Gefühl von tatsächlich stattgefundener Vergangenheit, mithin von Geschichte, das ich in meinem Leben immer und überall vermisst habe. Im ehemaligen Ost-Berlin, ähnlich wie in Leipzig oder Dresden, sah es so aus, als hätte außer den neunziger Jahren nichts stattgefunden. Die Zeit davor hatte man einfach abgerissen, saniert, übermalt oder verfallen lassen. Ständig mussten meine Augen dort alte gegen neue Bilder austauschen, während mein Blick hier nun über verstaubte Auslagen, in alte Hausaufgänge und abgestandene Lokale hinein, über ganz selbstverständlich flanierende ältere Passanten schweifen konnte, als würde er sich ausruhen dürfen. Trotz des kalten Windes begann ich die Melancholie als jene dumpfe und doch warme Empfindung zu genießen, nach der ich mich oft gesehnt hatte und die sich genauso einzustellen begann, wie in Frankfurt am Main, München oder Hamburg. Wie auf einem Pendel glitt ich hier in eine Vergangenheit zurück, die nicht meine gewesen war und die doch die Einzige blieb, der ich noch begegnen konnte.

Was aber sollte ich davon halten, dass nun etwas im Sterben liegen sollte, was für mich ohnehin stets das Alte und irgendwie Vergangene gewesen war? Klar, ich hatte im alten Café Einstein in der Kurfürstenstraße Kaffee getrunken, hatte schüchtern in der Paris Bar gesessen und Otto Sander an der Bar beobachtet, hatte jüngst die wunderbare „Hedda Gabler“ in der Schaubühne gesehen, all das aber waren touristische Ausflüge gewesen, die ich planen musste und die deshalb mit meinen Leben nicht so recht was zu tun hatten. Ins Kino ging ich normalerweise in Prenzlauer Berg, meine Pizza aß ich im „Brot und Rosen“, mein Schnitzel manchmal im „Borchardt“, ich shoppte in der Friedrichstraße und tanzte im Cookies, das es ja nun auch eine ganze Weile nicht mehr gab. Auch das war doch alles längst Westen geworden, der jetzt eben überall stattfand. Nie käme ich auf die Idee, meinen Freunden vorzuschlagen, ins Goya am Nollendorfplatz zu gehen. Ich bin mir sicher, sie würden mir ’nen Vogel zeigen.

Rächte sich nun etwa, dachte ich plötzlich, als ich vor dem Haus des alten Astor-Kinos am Kurfürstendamm stand, in dem Tommy Hilfiger einen riesigen Store eröffnet hatte und das nun schräg gegenüber einer traurigen Plus-Filiale lag, dass die Stadt hier jenseits der Mauer einen ewigen Traum zu träumen gewagt hatte, aus dem selbst dann niemand erwachen wollte, als rundherum nichts mehr wie vorher war? Ganz so, als wäre das Leben eine Entscheidung zwischen Günter Pfitzmann und Wim Wenders, Otto Sander und Ben Becker, zwischen Ute Lemper und Desirée Nick.

Mein Handy klingelte, Olivia war ganz in der Nähe, wir verabredeten uns zum Abendbrot im „Diener“. Gerade hatte ich in der „Zitty“ gelesen, dass man hier pfälzische und österreichische Hausmannskost servieren würde. Der Lippenstift der Kellnerin war ähnlich pinkfarben wie ihr T-Shirt, ein Gürtel, der ihre Taille entweder betonen oder verstecken sollte, war schwarz, so wie die Thermostiefel an ihren Füßen. Ob die Kartoffelpuffer selbst gemacht seien, wollte ich wissen. Sie verneinte. Wie es denn um die Käsespätzle stünde, setzte ich nach. Nein, auch die seien aus der Packung, aber total lecker. Dabei sah sie mich mit einem unmissverständlichen Blick an, der klar machte, wer so etwas selber macht, ist bescheuert. Und ich dachte: toll!

Die Autorin wurde 1976 in Leipzig geboren und lebt als Schriftstellerin in Prenzlauer Berg

Jana Hensel

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