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Mode: Untragbar

Das Modediktat setzt uns zunehmend unter Druck – und wir lassen das zu. Warum eigentlich?

Das Klingeln meines Handys reißt mich aus dem Tiefschlaf. Mein Blick fällt auf den Wecker: 6 Uhr! Am anderen Ende der Leitung vernehme ich die aufgelöste Stimme meiner Freundin Julia: „Hast du eine Ahnung, was ich heute anziehen soll?“ Eine Frage, die sie mir in letzter Zeit häufig stellt. Gerne auch zu nachtschlafender Zeit. Dabei wäre es so einfach: ein T-Shirt, eine Jeans, hochhackige Schuhe, Schal, Jacke – fertig. Doch Julia betreibt jedes Mal ein sinnloses Drama um die morgendliche Kleiderfrage. Man könnte meinen, sie ginge nicht zur Schule, sondern zu einer Modenschau.

Natürlich hat sich unser Gymnasium nicht über Nacht in einen Catwalk verwandelt; doch wenn man sich die Mitschüler genauer anschaut, fällt deren modisches Feingespür auf. Und das nicht nur bei den Mädchen. Auch Jungs bemühen sich um einen individuellen Stil: Ledertaschen im Retrolook, enge Röhrenjeans, dunkel umrandete Brillen, farblich abgestimmte Schuhe, große Uhren. Ihre modische Kreativität kennt keine Grenzen. Ebenso wenig die der Mädchen: Schwarze Taschen im Krokostil, Ankle Boots, Bettelarmbänder, Skinnyjeans, bunte Schals … Und das jeden Tag neu kombiniert. Denn wer das gleiche Outfit zweimal trägt, riskiert Getuschel. Unser Äußeres ist unsere Rüstung gegen mögliche Anfeindungen.

Der Druck, modisch mithalten zu müssen und sich nach bestimmten Regeln und Vorgaben zu kleiden, wächst stetig, vielleicht war er nie so groß wie heute. Unsere Eltern beobachten unser Treiben mit einer Mischung aus Amüsiertheit und Verwunderung. „In meiner Schulzeit hätte es das nicht gegeben!“, hört man sie manchmal murmeln. Wenn ich mir die Schulfotos meiner Eltern angucke, dann weiß ich, was sie meinen – fast alle Klassenkameraden tragen Jeans und triste Pullover. Eine inoffizielle Schuluniform, die man sich heute nur erlauben kann, wenn man sich wohl fühlt im sozialen Abseits.

Fast jeder von uns hat regelmäßige Shoppingtouren auf dem Plan, der Klamottentausch mit Freundinnen gehört zum festen Bestandteil des Alltags. Leider sind dem eigenen Stil gewisse Grenzen gesetzt – durch die Höhe des Taschengeldes. Aber Grenzen sind da, um überwunden zu werden, etwa durch Streifzüge über Flohmärkte. Dort findet man oft günstige Accessoires und kann zudem sein modisches Gespür schulen – sogar Kate Moss betont immer wieder, wie gerne sie auf Flohmärkten einkaufen geht; sie gilt als Königin des sogenannten Vintage-Looks. Als Orientierungshilfe dienen auch Serien wie „Gossip Girl“. Die Handlung? Nebensache. Beeindruckend sind vor allem die Outfits der Protagonisten.

Wer sich in Sachen Stil weiterbilden will, liest einschlägige Blogs. Sie beantworten kleidungstechnische Fragen und bereichern das eigene Wissen mit Tipps und Neuentdeckungen. Stilblogger wie Yvan Rodic und Scott Schuman sind zu verehrten Modemogulen geworden: Sie fotografieren außergewöhnliche Menschen auf der Straße und stellen diese Bilder dann ins Internet. In meinem Freundeskreis haben es sich viele zum Ziel erklärt, wenigstens einmal im Leben von einem ihrer Bloggeridole abgelichtet zu werden. „Allein die Vorstellung, wegen meines Stils im Internet für Diskussionsstoff zu sorgen, treibt mir Gänsehaut über den Rücken“, erklärt mir eine Freundin neulich beim Kaffeetrinken, „wie ein Star muss man sich dabei fühlen.“

Mode findet längst nicht mehr hinter geschlossenen Türen bekannter Modehäuser statt, sondern auf den Straßen. Und Modeblogs haben diese Revolution maßgeblich vorangetrieben. Zuletzt machte die 13-jährige Bloggerin Tavi Gevinson Schlagzeilen – ihr liegt die halbe Modewelt zu Füßen, bei wichtigen Schauen sitzt sie in der ersten Reihe, die Designer fürchten ihr Urteil.

So groß diese Begeisterung für die Trenddeuter der virtuellen Modewelt sein mag, so vorsichtig sollte man damit aber auch umgehen. Allein das Lesen dieser Blogs kostet uns wertvolle Zeit, die wir anders nutzen könnten. Die Frage ist nur: Wollen wir das überhaupt? Die meisten von uns interessieren sich nicht für tagespolitische Themen, und nur wenige könnten den Politikern im Fernsehen Namen und Parteien zuordnen. Dafür kennen wir die Chefdesigner aller großen Modehäuser und die wichtigsten Stilblogger sowieso, denn oberste Priorität ist es, up to date zu sein. Wer jedoch zu viel Zeit im virtuellen Netz des Stils verbringt, der läuft Gefahr, die reale Welt zu verpassen wie einen Trend, den man nicht mitbekommen hat.

Was also tun? Vielleicht sollte man den ganzen Hype um das perfekte Outfit als das begreifen, was er ist: als Möglichkeit, den Trott des Alltags etwas abwechslungsreicher zu gestalten – nicht mehr, nicht weniger. Denn Trendbewusstsein und wirkliche Stilsicherheit sind zwei verschiedene Paar Schuhe.

Jacqueline Möller

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