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Panorama: Privates Alphabet

Leser Edmund Köhn ist bei seinem Vater in die Schule gegangen, zu Hause am Esstisch

Schule sah für mich so aus: Jeden Morgen um acht Uhr wurde der Esszimmertisch in unserer Wohnung freigeräumt. Dann versammelten sich darum acht bis zehn Kinder und mein Vater verteilte Aufgabenbögen.

Diese etwas außergewöhnliche Privatschule meines Vaters befand sich in Lissabon, kurz nach dem Krieg. Meine Eltern waren schon vor dem Krieg nach Portugal gekommen, mein Vater arbeitete als Deutschlehrer für die Deutsche Akademie der Wissenschaften, eine Art VorläuferOrganisation des Goethe-Instituts. Unsere Familie ist in Lissabon hängen geblieben, hatte aber nach dem Krieg kein Einkommen mehr, die Akademie der Wissenschaften existierte in dieser Form nicht mehr. Durch den Privatunterricht für mich, meine Schwester und andere deutsche Kinder konnte sich mein Vater ein bisschen Geld verdienen und so unser Überleben sichern. Denn eine deutsche Grundschule gab es in Lissabon nicht.

In unserer Wohnung mit den viereinhalb Zimmern mangelte es nicht an Platz für die Schule, aber an deutschen Schulbüchern. Man konnte nur portugiesische Kladden kaufen, die Lehrbücher, mit denen mein Vater an der Akademie Deutsch unterrichtet hatte, waren für Erwachsene bestimmt, aber nicht für Erstklässler. So lernten wir das Alphabet mit Buchstaben, die mein Vater für uns aus Pappe ausgeschnitten hatte. Wir steckten sie auf einem Pappständer, den er ebenfalls gebastelt hatte, zu Wörtern zusammen. Um das Lesen zu üben, hat mein Vater für uns Geschichten erfunden und auf Deutsch aufgeschrieben.

Mein Vater war kein strenger Lehrer. Dennoch haben wir bei ihm so viel gelernt, dass meine Schwester und ich den Anschluss in Berlin problemlos geschafft haben. Denn 1950 kehrten meine Eltern nach Deutschland zurück. Mein Vater hatte eine Anstellung an einer Berliner Schule gefunden.

Zuvor hatten meine Schwester und ich noch das staatliche Grundschulexamen in Lissabon abgelegt, eine zentrale Prüfung, die alle Kinder dort nach der vierten Klasse absolvieren mussten.

Der Abschied von Lissabon ist mir sehr schwer gefallen. Die Stadt, meine Freunde, das Lebensgefühl dort habe ich jahrelang vermisst. In der neuen Grundschule in Berlin, in Schmargendorf, habe ich mich aber gleich ganz wohl gefühlt, auch an die große Klasse mit 30 Schülern habe ich mich schnell gewöhnt. Aber nie mehr hat sich ein Lehrer für mich Geschichten ausgedacht und Buchstaben gebastelt.

Aufgezeichnet von Claudia Keller.

Edmund Köhn ist 65 Jahre alt und hat viele Jahre als Lehrer gearbeitet, davon etliche Jahre im Ausland, unter anderem in Peru. Dass es ihn immer wieder ins Ausland gezogen hat, resultiere wohl aus seiner Kindheit in Lissabon, sagt er.

Liebe Leser, wir würden gerne auch Ihre Schulgeschichte veröffentlichen. Schreiben Sie uns an: Der Tagesspiegel, Redaktion Schule, 10876 Berlin oder mailen Sie uns: schule@tagesspiegel.de

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