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© pa/dpa

Panorama: Schlank und krank

Blasse Haut, dürre Arme, tiefe Augenhöhlen. Eine Qual, etwas zu essen – eine Befreiung, sich zu übergeben Wir haben Marie und Juliana getroffen, sie sind 14 Jahre alt – und krank. Die Diagnose: Essstörung

Auf Station 31 riecht es an diesem Sonntagvormittag nach frisch gebackenen Plätzchen. In der Gemeinschaftsküche ist es warm, auf dem Tisch liegen Backbleche mit leckeren Keksen. Marie wäscht sich das Mehl von den Fingern und lächelt. Plätzchenbacken! Darauf wäre sie vor ein paar Monaten nun wirklich nicht gekommen.

Marie ist 14, sie ist magersüchtig. Und sie lebt seit zwei Monaten hier in der Kinderpsychiatrie der Charité, tief in Wedding, auf Station 31, im 4. Stock.

Über ein halbes Jahr lang hatte sie jede Mahlzeit geteilt, gedrittelt und geviertelt oder am liebsten ganz verkniffen, egal, wie klein die Portionen eh schon waren. Ein halbes Brötchen aß sie zum Frühstück, zu Mittag drei halbe Kartoffeln und vielleicht ein Schälchen Salat zum Abendessen, mit fettarmem Dressing. Gegen das Hungergefühl im Bauch gab es stattdessen ein paar Schlucke Cola Light.

Laut einer Studie des Robert-Koch-Instituts leiden mehr als ein Fünftel der Kinder und Jugendlichen im Alter von 11 bis 17 Jahren in Deutschland an Essstörungen wie Anorexie (Magersucht), Bulimie (Ess-Brech-Sucht) oder der Binge-Eating Disorder (Heißhungeranfälle ohne anschließendes Erbrechen). Ernst Pfeiffer, der Oberarzt, sagt: „Bei jeder zehnten bis zwanzigsten jungen Frau ist mit der Entwicklung einer Essstörung zu rechnen.“

Ungefähr 20 Patienten befinden sich bei Ernst Pfeiffer und seinen Kollegen in ambulanter Therapie, bis zu zehn Patienten werden stationär behandelt. Auch bei Jungs kommt die Krankheit häufiger vor, das hat gestern erst die Bundesregierung angemahnt, als sie die neue Kampagne gegen Essstörung vorstellte. „Leben hat Gewicht – gemeinsam gegen den Schlankheitswahn“, heißt die. Harmlos ist das wirklich nicht, Essstörungen führen zu Nierenfunktionsstörungen. Zu Herzproblemen. Zum Kreislaufkollaps. Bis zu 20 Prozent der Magersüchtigen sterben.

Marie lässt sich von Pfeiffer, dem Oberarzt, helfen. Inzwischen wiegt sie 57 Kilogramm, bei 1,71 Metern. Immerhin siebeneinhalb Kilo mehr als zum Zeitpunkt, als sie in die Klinik eingeliefert wurde.

Die engen Röhrenjeans sitzen locker auf ihren schmalen Hüften. Sie trägt eine blaue Kapuzenjacke. Marie teilt sich die vorgeschriebenen Mahlzeiten gut ein, sie will nicht so viel auf einmal essen, noch nicht. Früher hat sie getanzt, in der Therapie ist ihr Sport noch nicht erlaubt.

Angefangen hatte alles mit ihrem Vorsatz, nichts mehr zu naschen. Süßigkeiten waren irgendwann verboten, dann auch Fleisch und schließlich immer mehr. „Irgendwann habe ich die Kontrolle verloren“, sagt sie. Marie nahm ab, immer mehr, sie konnte nicht aufhören.

Dabei hatte alles so einfach begonnen. Sie wollten ein bisschen schöner sein. Und schöner bedeutete auch dünner. Nicht ganz so dünn wie die Models zwar, die sie im Fernsehen oder in Zeitschriften sah, aber „vielleicht ein bisschen so“.

Marie hat einen anderen Namen, sie will nicht erkannt werden, aber über ihre Krankheit sprechen, das will sie schon. Aus dem Internet besorgte sie sich eine Kalorienliste. „Über fünf Ecken, damit es meine Mutter nicht nachverfolgen konnte“. Ihren Körper mag Marie nicht, sich in der Therapie im Spiegel anzusehen, fällt ihr noch immer schwer.

Neben ihr sitzt Juliana, auch sie ist 14, auch sie hat in Wirklichkeit einen anderen Namen, auch sie ist krank. Juliana leidet an Ess-Brech-Sucht, Bulimie, und lebt seit sechs Wochen hier oben auf Station 31. Sie ist kleiner als Marie. Und auch sie zögert noch immer beim Blick in den Spiegel. „Ich kann meinen Körper noch nicht so richtig anfassen“, sagt sie. „Und dabei dachte ich immer, ich hätte ein ganz gutes Selbstbewusstsein.“ In den sechs Wochen im Krankenhaus hat sie Eines immerhin gelernt: „Von regelmäßigem Essen nimmt man nicht zu.“

Genau davor hatte Juliana zuvor große Angst. Vor einem Jahr begann sie, sich nach den Mahlzeiten zu erbrechen. Erst wenn der Magen wieder leer und das ziehende Hungergefühl da war, fühlte sie sich gut. „Hungrig zu sein machte mich euphorisch“, erzählt sie. An schlechten Tagen erbrach sie sich sechs Mal, in guten Zeiten nur drei Mal pro Woche.

Vor ihren Eltern hielt sie ihren Kampf geheim. Sie machen sich heute Vorwürfe. „Ich wusste, dass das, was ich tue, falsch ist“, sagt Juliana und dreht eine Strähne ihrer hellblonden Haare zwischen den Fingern. Ihre Gesundheit war ihr nicht so wichtig. Wurde der Hunger zu groß, plünderte sie kurzerhand den heimischen Kühlschrank, aß alles, was eigentlich „verboten“ war – und übergab sich anschließend. Auf Station 31 hat sie nach den Mahlzeiten Toilettenverbot.

Irgendwann erzählte Juliana ihrer Mutter vom Erbrechen, den Heißhungerattacken und dem ständigen Kalorienzählen. Sie suchte nach Hilfe und hatte trotzdem Angst vor dem was kommt: „Ich dachte, wenn die Krankheit aufhört, habe ich gar nichts mehr, worüber ich mich definieren kann.“ Juliana leidet zudem an Depressionen. Das ist die häufigste Begleiterkrankung bei Essstörungen.

Noch kann sich keines der beiden Mädchen vorstellen, das Krankenhaus zu verlassen und anstatt zur Klinikschule wieder auf ihr altes Gymnasium zu gehen. Zu groß ist die Angst vor einem Rückfall und davor, dass der Stress und die Belastungen wieder übermächtig werden.

Oberarzt Ernst Pfeiffer weiß: „Mit ein paar Therapiesitzungen ist es bei einer Essstörung nicht getan.“ Sorgfältig müsse das chaotische Essverhalten einer Bulimie-Kranken umgestellt werden. Bei Magersüchtigen sei eine sehr langsame Gewichtszunahme von etwa 500 bis 1000 Gramm pro Woche zu empfehlen. Was sich wenig anhört, bedeutet für magersüchtige Patienten wie Marie nicht nur einen Berg von Essen. Jede größere Mahlzeit kostet sie Überwindung und oft helfe nur der Gedanke daran, dass „alle anderen das jetzt auch essen müssen“. Ob sie sich noch immer zu dick fühlt? Sie schaut erstaunt und sagt: „Ja.“

Dass der Weg aus einer Essstörung nicht einfach ist , weiß auch Psychotherapeutin Ulrike Juchmann. Seit drei Jahren leitet sie die therapeutische Wohngruppe „Mondlicht“ für essgestörte Mädchen in Berlin. Eine Essstörung sei stets ein Lösungsversuch für schwierige Lebenssituationen, sagt Juchmann. Scheidungen, Todesfälle, so etwas. Aber auch die Rollen der Vorbilder können ausschlaggebend sein. Und Vorbilder sind Stars oder Models. „Essgestörte Mädchen halten uns einen Spiegel vor, der zeigt, wie in unserer Gesellschaft mit Schönheitsidealen umgegangen wird.“ Die Mädchen seien „auf der Suche nach ihrer Identität“, sagt Juchmann.

Viele Essgestörte finden sich im Internet zusammen. Auf sogenannten „Pro-Ana“ (das ist angelehnt an Anorexie) oder „Pro-Mia“ (das steht für Bulimie) Seiten werden Tipps ausgetauscht, umfassende Kalorientabellen veröffentlicht und Durchhalteparolen ausgegeben.

Was dort so steht?

Ein Mädchen schreibt: „Als Dünne kann man alle Jungs haben“. Und: „Was willst Du tun? Eine fette Kuh werden?“

Oder: „Better dead than fat“.

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