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Werkstadt im Umbruch: Wolfsburg kämpft um ein neues Image

In Wolfsburg wohnen? Jeder Dritte pendelt da schon lieber. Der Rest des Landes spottet über die Ödnis mit Gleisanschluss. Das ist natürlich ungerecht. Die Stadt hat sich ein Ziel gesetzt: Sie will ganz normal werden.

Lehnt eine Plakattafel an der Wand und wirbt für eine Ausstellung nebenan. Steht in weißer Schrift auf grünem Grund „Learning from Detroit“ drauf. Kann sich also nur um einen Witz handeln, denn wer sollte hier – und vor allem was – von Detroit lernen wollen, hier in Wolfsburg? Wie man Autos besser nicht baut? Wie man eine Stadt zugrunde richtet? Wie man Aufmerksamkeit dafür bekommt, dass man mal wer gewesen ist?

Sabah Enversen geht vorbei an dieser Plakattafel, er schaut nicht mal hin. Er lebt in Wolfsburg, er arbeitet hier, und zwar idealtypischerweise beim ortsansässigen Weltkonzern Volkswagen. Als Feierabendpolitiker widmet er sich Wolfsburger Stadtentwicklungsfragen. Er ist seiner Stadt seit Jugendtagen mit Tatkraft verbunden, er hat ihren Aufstieg begleitet und miterlebt, wie sie dennoch stets im Schatten der öffentlichen Wahrnehmung geblieben ist. Enversen weiß: Die Welt macht sich kein Bild von dieser Stadt. Der Welt ist Wolfsburg egal. Wenn sie dennoch einmal herschaut, dann verlässlicherweise, wenn wieder einmal ein ICE durch den Bahnhof gerast ist, anstatt fahrplangemäß anzuhalten. Das passiert gelegentlich. Zeitungen schreiben darüber, Fernsehsender senden, wobei es dann nie nur um die Übermittlung der Durchfahrtsnachricht an sich geht. Es gilt auch, eine Gelegenheit zum Spotten zu nutzen. Nicht über die Bahn. Der Spott gilt dann Wolfsburg, als sei es goldrichtig, durchzufahren und jeder hier haltende Zug selbstverständlich ein Fehler.

Neulich, nach dem Elbehochwasser, ist ans Licht dieser Öffentlichkeit gekommen, dass die Züge wegen eines durchweichten Streckenabschnitts fortan deutlich länger als bisher von Berlin nach Wolfsburg und zurück unterwegs sein werden. Staunend nahm sie zur Kenntnis, dass dies auch Pendler träfe, Menschen also, die in Wolfsburg arbeiten und von denen mehr als 800 zum Beispiel in jenem 200 Kilometer entfernten Berlin wohnen. Wolfsburg reagierte schnell und stellt ihnen nun zum Übernachten eine Kaserne auf einem einstigen Truppenübungsplatz zur Verfügung.

Enversen, Jahrgang 1957, schwarzer Anzug, Schlips und Kragen, sagt: „Dass die anderen uns so sehen, wenn sie uns denn überhaupt sehen, die haben nicht ganz unrecht damit.“ Die Sicht auf Wolfsburg durch die Eisenbahnbrille jedenfalls verweise ja auf ein grundsätzliches Gegenwartsproblem der Stadt. „Wir müssen hier den Überfluss verwalten“, sagt Enversen. Wolfsburg hat enorm viele Arbeitsplätze. Morgens wollen sehr viele Menschen in die Stadt hinein, abends dann wieder heraus, sie stehen viel im Stau. Wenn dann noch die Bahn nicht funktioniert, wird es ernst auf den Straßen und kompliziert im Alltag der Pendler. Wer gleich ganz herziehen will, der findet nur schwer eine Wohnung. In Wolfsburg ist der Platz knapp.

Andere wären neidisch: Der Überfluss bereitet Probleme

Wolfsburg: 120 000 Einwohner, 74 000 Pendler. 50 000 Beschäftigte allein im hiesigen Volkswagen-Werk, mehr als 11 0000 sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze insgesamt. Höchste Wirtschaftskraft pro Einwohner in Deutschland. Mit 40 Euro Durchschnittsstundenlohn ebenfalls ganz oben.

Enversen kennt die Zahlen auswendig. Sie wären ein guter Anlass für ihn, jetzt etwas Selbstgefälligkeit in die Stimme zu legen, denn die Wirtschaft und Stadtpolitiker wie er müssen einiges richtig gemacht haben, damit es so weit kommen konnte. Er könnte ein paar Vergleichszahlen aus dem siechen Detroit nennen. Doch Enversen sagt: „Wir haben nur halb so viel Einwohner wie Braunschweig, aber genauso viele Jobs.“ Braunschweig, 30 Kilometer entfernt, das ist der Maßstab. Und der nächste Schatten.

Enversen spricht vom Glück über den Sieg, den seine Stadt davongetragen hat, als sie ICE-Haltestelle zwischen Hannover und Berlin geworden ist, und Braunschweig – obwohl ebenfalls interessiert – leer ausging. Er spricht vom gemeinsam betriebenen Flughafen, dessen stellvertretender Aufsichtsratschef er ist, und der nun auch Wolfsburg im Namen trägt, obwohl er sich auf Braunschweiger Gebiet befindet. Enversen sagt: „Wolfsburg hat auch ein vernünftiges Schloss.“ Braunschweig hat ein neu gebautes, Wolfsburg ein 1302 erstmals erwähntes. Zwischenzeitlich ist ein Renaissancebau daraus geworden. Das ist die Wolfsburg.

Seit 1945 heißt auch die Stadt so. In den sieben Jahren zuvor, nach ihrer Gründung im Jahr 1938, hieß sie „Stadt des KdF-Wagens bei Fallersleben“. Der KdF-Wagen war der Kraft-durchFreude-Wagen, er war geplant als Volkswagen im Wortsinne. Jeder sollte sich einen leisten können. Für das dazugehörige Werk wurde Ende Mai 1938 der Grundstein gelegt, und einen Monat später wurde die zum Werk gehörige Stadt – die Ortschaft Fallersleben lag in der Nähe – gegründet. Das Werk war also eher da. Die Stadt sollte ihm dienen, indem sie dessen Arbeiter beherbergt.

Enversen steht im Hof der Wolfsburg, er wendet sich nach links, nach rechts, er schaut die Wände hoch. Er bekommt den Blick nicht los vom einzigen Bauwerk seiner gerade 75 Jahre alt gewordenen Stadt, das nicht vom „Dritten Reich“ und der Nachkriegszeit, nicht von den einst für gut befundenen und längst wieder problematisch gewordenen Städtebauideen des 20. Jahrhunderts erzählt, sondern von etwas sehr Altem und sehr Beständigem.

Wenn er den Blick vom Sandstein lösen würde, fiele ihm vielleicht endlich die Plakattafel auf, die hinter ihm an der Schlosshofwand lehnt. In der Ausstellung könnte er erfahren, was man so alles von Detroit lernen könnte. Folgendes zum Beispiel: „So sind in Detroit ,Urban Gardening’ und ,Urban Farming’ weit verbreitet. Viele Bewohner nutzen die Freiflächen, leer stehenden Häuser und Fabrikgebäude, um ihre Selbstversorgung abzusichern oder diese künstlerisch zu gestalten.“

„Urban Gardening“ also. Gemeinschaftlich gepflegte Radieschen auf Mittelstreifen. Leere Häuser und Fabriken. Hat Wolfsburg bisher nur in homöopathischer Dosis. Gardening allein dagegen sehr viel. Alte Bäume gibt es in Wolfsburg, mit Nistkästen dran. Auf den Wiesen hoppeln Karnickel, am helllichten Tag und mitten in der Innenstadt. Urban wiederum – wenn man darunter Menschen versteht, die sich in hinreichender Anzahl und nicht zuletzt auch zu Fuß durch die Stadt bewegen und ihren alltäglichen Verrichtungen nachgehen – ist in Wolfsburg wenig. Was wiederum auch an den Bäumen und Wiesen, am Gartenstadtcharakter vieler Viertel liegt. Zu Fuß lässt sich in diesem auseinandergeflossenen Wolfsburg, zerschnitten von Grün und breiten Straßen und vom Mittellandkanal, nur wenig erledigen.

Der Umstand ist von der Stadtpolitik erkannt, und zwar als Problem. „Wir brauchen neue Wohnungen“, sagt Enversen. „Wir brauchen Verdichtung. Wir brauchen ein vernünftiges Nahverkehrssystem, schienengebunden, eine Straßenbahn also. Am besten auch gleich in das riesige VW-Werk rein.“

Bald geht es los. Die städtische Wohnungsbaugesellschaft will in den kommenden fünf Jahren 136 Millionen Euro für den Bau von 800 Wohnungen investieren. Insgesamt sollen es 6000 bis zum Jahr 2020 sein. Für die Straßenbahn gibt es eine Mehrheit im Parlament. Die Stadt muss sich einem Wettlauf stellen. Sie muss mithalten mit VW. Enversen sagt: „Für die Leute, die hier arbeiten wollen, müssen wir ein Angebot schaffen.“ Der Konzern wird immer internationaler. Damit aber eine chinesische oder amerikanische Führungskraft ins Auge fasst, in eine 120 000-Einwohner-Stadt im Aller-Urstromtal, gelegen zwischen Feuchtgebieten und Niedermooren, zu ziehen, muss ihr auch etwas geboten werden.

Es ist nicht so, dass Wolfsburg das nicht längst erkannt hätte. Als Enversen geboren wurde, beschloss der Stadtrat, ein Kulturzentrum nach den Plänen des Architekten Alvar Aalto zu bauen. Als Enversen zur Schule ging, baute Wolfsburg ein Theater, entworfen von Hans Scharoun. Im Jahr 2005 – Enversen hatte gerade seinen Posten als Vizevorsitzender des Ausschusses für Stadtentwicklung, Stadtmarketing und strategische Planung angetreten –, kam ein Wissenschaftsmuseum von Zaha Hadid dazu.

Es waren die Jahrzehnte der in die Stadt gestellten Großbauten. Der allergrößte davon ist die sogenannte Autostadt. Die Autostadt ist eine von VW betriebene Ansammlung von Automuseen, einem Freizeitpark und einem Kundenzentrum. Es gibt einen Tunnel, in dem 2000 Blumentöpfe stehen. Die Idee dazu hatte Ólafur Elíasson, ein Großkünstler. Zur Eröffnung im Frühjahr 2000 kam der Bundeskanzler Gerhard Schröder. Zwar noch am selben Tag – aber eben erst danach – fuhr er weiter nach Hannover, um dort den Beginn einer Weltausstellung zu feiern. Die Prioritäten waren klar. Erst kommt Wolfsburg, dann kommt die Welt.

Das alles reicht ganz offensichtlich nicht. Noch immer reden zugereiste Wolfsburger schlecht von ihrer Stadt. „Keine Clubs, keine Altstadt, leider“, heißt es dann. Oder auch: „Teilweise absurd hohe Löhne, es geht dort vielen nur ums Geld.“ „Kaum Kultur.“

Einst waren die VW-Chefs so etwas wie die kleinen Könige

Zumindest das Letzte stimmt nicht ganz, „wir haben unverschämt viele Kultureinrichtungen“, sagt auch Enversen. Aber es zeigt, wie sehr sich das Bild von einer Stadt auch gegen alle Tatsachen verfestigen kann. Enversen sagt: „Wir bauen zurzeit ein neues Selbstbild.“ Er spricht von „Identitäten“ und „Funktionszusammenhängen“, was daran liegen kann, dass er neben einer EDV-Ausbildung auch ein Studium der Germanistik und der Sozialwissenschaften absolviert hat. Er meint damit: Wolfsburg soll eine normale Stadt werden, ein wenig so wie Braunschweig, und die Leute sollen das auch merken. Deshalb will Enversen eine Straßenbahn, deshalb will er dichter beieinander stehende Wohnhäuser, mit Erdgeschossen, in denen Läden sind. Läden seien wichtig für die Urbanität. Sie seien wichtig, um den „Kaufkraftabfluss weiter aufzuhalten“. Denn die hohen Löhne, die ja auch ein Spiegelbild für den fehlenden Magnetismus Wolfsburgs sind, blieben lange Zeit nicht in der Stadt.

Der Neubau eines „Designer Outlet Centers“ 2007 markiert, wenn man so will, den Übergang zwischen Wolfsburgs Phase der Großspurigkeit und der herbeigesehnten Normalität. Groß ist das Einkaufszentrum immer noch, und es wird derzeit sogar noch ausgebaut. Aber in den Geschäften kann man ordinäre Jeanshosen kaufen, unmodern gewordene Oberhemden und preisreduziertes Geschirr.

Volkswagen selbst macht mit bei dem Wandel. Vor sieben Jahren noch stellte der Konzern eine „Autouni“ auf eine Wiese. Mittlerweile hat er der Stadt eine Gesamtschule geschenkt. In diesem Jahr, wieder eine Nummer kleiner, gab es einen Laster mit eingebautem Naturwissenschaftslabor.

Bei aller neuen Bescheidenheit sind das immer noch wertvolle Geschenke, und sie werden nicht aus purer Nächstenliebe überreicht. Aber wer akzeptiert, dass Wolfsburg und Volkswagen in einer Symbiose leben, kann daran wenig aussetzen. „Die Stadt tickt im Takt von VW“, sagt Enversen. Wenn sie sich gegen den Konzern stellen würde, „dann wäre das Selbstmord“. Er kennt diese wechselseitige Abhängigkeit aus eigenem Erleben. Er kennt sie auch aus sozialwissenschaftlichen Standardwerken, die das ziemlich einmalige Nebeneinander einer recht kleinen Stadt und einer sehr großen Firma erforscht und problematisiert haben.

Zuallererst freut er sich erst einmal, wenn VW wieder einmal ein Bekenntnis zu Wolfsburg abgibt. Enversen spricht von Augenhöhe, auf der die Stadt und der Konzern längst miteinander reden würden. Die Zeit der „kleinen Könige“ bei VW sei lange vorbei. Im Großen und Ganzen steht das so auch in den Büchern der Sozialforscher. Das ist insofern erstaunlich, weil VW selbst mit den Jahren immer größer geworden ist. Das Werk in Wolfsburg ist längst nicht mehr die einzige Autofabrik des Konzerns. Es ist eines von 100. Ein Drittel aller VW wird mittlerweile in China verkauft. Und an dieser Stelle kommt die Angst ins Spiel.

Wird Wolfsburg angesichts dessen auf ewig Sitz der Konzernzentrale bleiben? Niemand bei VW antwortet öffentlich mit Nein auf diese Frage. Es gibt seit 1960 sogar ein Gesetz, das solchen Gedanken entgegensteht, das sogenannte VW-Gesetz. Es räumt Niedersachsen ein Mitspracherecht ein. Aber weiß man’s?

Die Stadt muss sich selbst angenehmer und bewohnbarer machen, zum eigenen Nutzen, und damit auch zum Nutzen von VW. Oder umgekehrt. Jeder durchrasende oder Umwege fahrende Pendler-ICE ist ein Argument gegen sie.

Erschienen auf der Dritten Seite.

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