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Panorama: Wild auf den Westen

Junge Frauen kehren Ostdeutschland den Rücken. Zurück bleibt eine „männerlastige Bevölkerung“

Ostdeutschland ist europaweit eine beispiellos frauenarme Gegend. Zu diesem Ergebnis kommt eine Diplomarbeit, die der Geografiestudent Torsten Obst diesen Donnerstag an der Ernst-Moritz-Arnd-Universität in Greifswald verteidigte. 2001 seien im Osten auf 100 Männer zwischen 18 und 29 Jahren nur 86,5 Frauen im gleichen Alter gekommen. Bundesweit wären es 98 gewesen. Der Hintergrund sei die massive Abwanderung junger Frauen.

Der Titel der Arbeit klingt unspektakulär: „Disproportionale Bevölkerungsentwicklung in europäischen Regionen – dargestellt an ausgewählten Strukturveränderungen im demographisch aktiven Alter“. Das Ergebnis aber ist brisant: In ganz Ostdeutschland gibt es keine einzige Region mit einem Frauenüberschuss, dafür teilweise 20 Prozent weniger weibliche als männliche Einwohner. Zurück blieben „stark männerlastige Bevölkerungsstrukturen“, heißt es in der Studie.

Autor Obst hat sich statistische Vergleichsdaten aus mehr als 220 Regionen in Europa angeschaut und dabei genau herausgearbeitet, wie viele junge Frauen jeweils auf 100 Männer der gleichen Altersgruppe kommen. „In keiner anderen Region Europas ist die überdimensionale Abwanderung so ausgeprägt wie in Ostdeutschland“, sagt der Demograf Wolfgang Weiß, der die Studie begutachtet hat. Ähnlich ungünstige Daten gebe es gerade noch in Regionen Nordfinnlands und Nordschwedens.

Warum ziehen vor allem junge Frauen weg aus Ostdeutschland und was bedeutet das für die Gesellschaft? „Wir sind noch ganz am Anfang unserer Forschung über die Konsequenzen für die Regionen, aus denen abgewandert wird“, sagt Weiß. Fest stehe nur, „dass viele junge, gut ausgebildete Frauen ihre ostdeutsche, oft ländliche Heimat verlassen und vorwiegend in westdeutsche Städte ziehen“. Die eindeutigen „Gewinner“ seien Universitätsstandorte, vor allem im grenznahen Bayern und in Baden-Württemberg. Dort gebe es oft sogar einen Frauenüberschuss.

Was für den Westen eine positive Entwicklung ist, hat für die neuen Bundesländer gravierende Folgen. „Seit der Wende sind sowieso schon zwei Millionen Menschen aus Ostdeutschland abgewandert“, sagt Weiß. Eine überalterte Gesellschaft, in der gut ausgebildete Arbeitskräfte fehlten, verarme enorm. „Wenn nun noch immer mehr junge Frauen verschwinden, verlieren die betroffenen Regionen ihre Zukunftschancen in doppelter Hinsicht“, prognostiziert Weiß. Mit den jungen Frauen, potenziellen Müttern, ziehe auch gleich die nächste Generation davon.

Besonders dramatisch ist das Geschlechterverhältnis in Thüringen. Mit einem Wert von 81,9 wies die dortige Frauenquote im Jahr 2001 den niedrigsten Wert auf dem gesamten europäischen Kontinent aus. Nur einige wenige ostdeutsche Großstädte wie Halle, Leipzig oder Rostock hellten das düstere Bild im Osten Deutschlands etwas auf.

„Die Gründe für solche sexualproportionalen Schieflagen sind vielfältig“, sagt Demograf Weiß. Wichtig sei das veränderte moderne Frauenbild. „Früher waren es die Männer, die auf der Suche nach Arbeit ihr Zuhause verließen.“ Heute zögen eben die Frauen in wohlhabendere Gegenden nach Westdeutschland, in die Schweiz und neuerdings auch verstärkt nach Österreich. Neben Universitätsstädten seien die tourismusstarken Regionen mit Jobs in der Gastronomie und im Servicebereich für Frauen interessant.

„Für die zurückbleibenden Männer ist das frustrierend und kann zu Spannungen führen.“ Aber der Wissenschaftler warnt vor voreiligen Rückschlüssen auf politische Entwicklungen. Die Dinge passten nicht in das übliche Ost-West-Klischee. „Erst müssen wir unsere Hausaufgaben machen und die Konsequenzen des demografischen Wandels genau erforschen.“ Der diagnostizierte Frauenmangel sei ein Teil des allgemein feststellbaren Überalterungsprozesses in westlichen Industrieländern. Schon vor der Wende wären ostdeutsche Frauen auf Arbeitssuche umgezogen – aufgrund der Grenze allerdings nur innerhalb ihrer Region.

Juliane Schäuble

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