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© Foto ddp

Winnenden: Nach den Schüssen nicht nur Stille

Erinnern, Erzählen, Politik machen – wie die Angehörigen der Opfer nach dem Amoklauf von Winnenden um Normalität ringen.

Eigentlich ist die Albertville-Realschule seit dem 11. März eine Art No-Go-Area in Winnenden. Der 17-jährige Tim K. hatte bei seinem Amoklauf neun Schüler, drei Lehrerinnen und auf seiner Flucht noch drei weitere Leute erschossen. Die Jalousien sind herabgelassen, die Sonne brennt auf einen leeren Schulhof, der Rasen wird nicht mehr gemäht.

Doch irgendwo aus dem Untergeschoss dringt ein Schlagzeugsolo. Hinter schwerer Tür probt eine Band im Halbdunkel. Die Jungs von „Nonsense“ sind nicht gerade erfreut über den neugierigen Besucher. Von der Journaille hat man in dieser Stadt genug. „Die Leute hier wollen nicht mehr drüber reden, die wollen einfach wieder normal leben“, sagt der Bandleader Johnny Jurenka. Die Jungs sind vom benachbarten Gymnasium, von den erschossenen Realschülern haben sie keinen gekannt. Trotzdem haben sie ihnen einen Song gewidmet: „One last time“. „Es geht darum, jemanden, der tot ist, nochmal zu treffen, um sich für Fehler zu entschuldigen, die man gemacht hat“. Der Songtext steht, nur die richtigen Töne hat die Band noch nicht gefunden.

An den rückwärtigen Teil der Schule grenzt das Sportgelände an. Hinter Sichtblenden ploppen Tennisbälle, Mopeds knattern, Mädchen kicken auf dem Bolzplatz. Selina Marx hat auch Fußball gespielt. „Seit ihrem fünften Lebensjahr hat sie beim SSV Steinach-Reichenbach gekickt“, sagt ihr Vater Jürgen Marx. „Sie war aufgeschlossen und sensibel“, „ein Mensch, der es jedem recht machen wollte“. Birgit Schweitzer und Jürgen Marx erzählen gern von ihrer 15-jährigen toten Tochter. Nur hören will das normalerweise keiner. Die Leute interessieren sich nur für den letzten Tag in Selinas Leben, für den Jungen, der sie erschoss.

Verletzend fanden die Eltern die nachträgliche Komplizenschaft mancher Medien mit dem Täter, die ihn zum bösen Helden stilisierten oder etwa einen Boulevardtitel, auf dem die Opfer auf Augenhöhe mit dem Täter abgebildet waren, „das gehört sich nicht“. Marx erinnert sich, dass er „richtig aggressiv“ wurde am Tag des Massakers, als die Medienmeute die Schule belagerte. An Selinas Mutter ist das abgeprallt, der Schock hat sie gelähmt. Erst nachts hat sie den Fernseher angestellt. „Ich musste diesen Typen sehen, ich musste wissen, wie er aussieht.“ Nein, sie empfinden keinen Hass – nicht gegen den Mörder, nicht gegen dessen Vater, der die tödliche Waffe hatte rumliegen lassen. Sie wollen gar nicht, dass ihnen die beiden auf diese Weise nahekommen könnten.

Die beiden geschiedenen Eheleute sowie die übrigen Eltern sinnen nicht auf Rache, aber sie wünschen sich, dass ein Prozess gegen den Vater eröffnet wird. Ob es ein öffentliches Verfahren geben wird, ist jedoch ungewiss. Das ganze könnte sich auch mit einem akzeptierten Strafbefehl als Papierkram erledigen. Die Frage nach dem Warum bliebe unbeantwortet, eine öffentliche Aufarbeitung des Amoklaufs fände nicht statt. „Das wäre ein Schlag ins Gesicht“, sagt Marx.

An der Albertville-Realschule will man Tim K. nicht die Hauptrolle überlassen, die sein mörderisches Drehbuch vorsah. „Er hat uns vieles genommen“, meint die Elternbeiratsvorsitzende Annette Frick-Helber, „unsere Schule lassen wir uns nicht nehmen“. Ein paar hundert Meter von der alten steht die neue, provisorische Realschule. 165 Container sind zu einem Bungalow zusammengeschoben, der Eingang ist bloß eine Scharte in der Phalanx eisgrauer Kisten. Ein Transparent begrüßt die Schüler: „Wir freuen uns, dass ihr wieder da seid.“ Die Schulgemeinschaft war nach dem Amok auseinander gerissen und auf unterschiedliche Gebäude in der Stadt verteilt worden. Sie hatte darauf gedrungen, wieder vereint zu werden.

Auf den ersten Blick wirkt Winnenden nicht anders als andere Kleinstädte, deren Bewohner bei Sonnenschein die Eisdielen bevölkern. Doch in Wahrheit ringt diese Stadt um Normalität. Am Abend finden sich die Leute zu Dutzenden bei Vortragsveranstaltungen ein, die früher keinen interessiert hätten, bei jeder größeren Festivität wird abgewogen, ob sie abgeblasen werden soll und die neue Containerschule wird von Kameras, Polizei und einem privaten Werkschutz überwacht.

Auch die Hinterbliebenen suchen den Weg zurück in ein normales Leben, doch die Wirklichkeit ist ein schwankender Kahn. Da hat einer gerade in den alten heilsamen Trott zurückgefunden, und im nächsten Moment gerät er ins Straucheln, weil eine Erinnerung aufflackert oder irgendwo ein Martinshorn ertönt. Und dann wieder gibt es Momente, da erscheint der Verlust so unwirklich wie ein böser Traum, aus dem man ganz bestimmt wieder erwachen wird. Schweitzer geht manchmal in das Zimmer ihrer Tochter, um mit ihr allein zu sein. „Aber es ist kein Museum. Es soll nicht so bleiben“. Auch Selinas beste Freundin wurde beim Amoklauf erschossen. Die Eltern haben nicht gewagt, etwas in ihrem Zimmer zu verändern. Marx war dort. „Alles ist noch so, als ob sie gerade weggegangen wäre.“

Es kommt vor, da rastet man aus, sagt Marx, da schreit man auf einmal vor Wut oder haut auf den Tisch. Verstehen könnten das bloß die, die Gleiches erleben. Acht der betroffenen Familien haben das Aktionsbündnis Amoklauf Winnenden gegründet, sie wollen ein Verbot großkalibriger Waffen erstreiten. Sie wollen, dass so etwas nicht wieder geschieht, und sie wollen dem sinnlosen, unbegreiflichen Tod ihrer Kinder wenigstens im Nachhinein so etwas wie Sinn abtrotzen. „Wir sind eine Seelengemeinschaft“, sagt Marx.

Keinesfalls wollen Schweitzer und Marx ihr politisches Engagement als Teil ihrer Trauerarbeit verstanden wissen, obwohl offenkundig ist, dass das Bündnis auch eine Chance ist, die Gedanken wieder in die Zukunft zu lenken. Aber die beiden vermeiden es, der Waffenlobby Munition zu liefern. Zu deren gängigen Argumenten gehört nämlich, Angehörige als Leute zu diskreditieren, die vor lauter Trauer nicht rational denken können und auf deren Forderungen der Gesetzgeber folglich unmöglich eingehen könne.

Am Abend wieder ein Vortrag: Michael North spricht über das Verbot großkalibriger Waffen. Der Rathaussaal ist proppenvoll. North hat beim Amoklauf im schottischen Dunblane 1996 seine fünfjährige Tochter verloren. Mit anderen Eltern gründete er das Gun Control Network, das binnen 18 Monaten ein Verbot privater Handfeuerwaffen erstritt. Seither hat es in Großbritannien keinen Amoklauf mehr gegeben.

Viele Zuhörer kritisieren nun die Halbherzigkeit deutscher Politiker bei der Verschärfung der Waffengesetze. Ein einsamer Waffennarr wagt sich zu Wort: Das Recht, eine Waffe zu besitzen, sei aus Sicherheitsgründen sinnvoll. Zu welcher Lösung wird man in Deutschland kommen? „In Amerika, wo das Recht, eine Waffe zu besitzen, als eminent wichtig betrachtet wird, werden Amokläufe als normal betrachtet, eben der Preis, den man für ein solches Recht bezahlen muss“, hat North an diesem Abend gesagt. Es ist gut, dass man in Winnenden noch nicht in der Normalität angekommen ist.

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