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Panorama: Wir Ratlosen - Wenn Jugendliche Verbrecher werden, rufen viele nach schnellen Lösungen

Es gibt kein Rezept. Die Bundesrepublik hat auf dem Bildschirm den von dem 14 Jahre alten Andreas gesteuerten, 40 Tonnen schweren Sattelschlepper gesehen.

Es gibt kein Rezept. Die Bundesrepublik hat auf dem Bildschirm den von dem 14 Jahre alten Andreas gesteuerten, 40 Tonnen schweren Sattelschlepper gesehen. Von einer Eskorte von blinkenden Polizeifahrzeugen begleitet, rollte er durch die niederrheinische Landschaft gen Monheim. Dort wollte der Junge sich stellen, nachdem er noch einmal seine Freundin gesehen hatte. Auf seiner Flucht, die in den Niederlanden begann, ist ein holländischer Polizist von dem Sattelschlepper überrollt und schwer verletzt worden.

Es war wie damals, als die kalifornische Polizei den weißen Bronco über die Autobahn geleitete, in dem auf dem Rücksitz O. J. Simpson hockte und mit Selbstmord drohte. Auf die Zusicherung hin, man werde ihn erst daheim unter Mordverdacht festnehmen, konnte der Freund des Sportidols, der den Wagen lenkte, schließlich die Flucht abbrechen und zurückkehren.

Andreas ist schließlich in Monheim, seinem Wohnort, festgenommen worden. Er hat seit 1998 wiederholt Autos und vor allem schwere Lkw gestohlen. Mit einem hat man ihn erst in Südfrankreich stellen können.

Es ist alles versucht worden mit dem noch nicht strafmündigen Andreas, von der Psychiatrie bis zur Sozialtherapie auf der spanischen Ferieninsel La Gomera in Begleitung einer Betreuerin, von der er sich absetzte. Und so wird nun ein Rezept gefordert werden, das dergleichen unverzüglich ein Ende macht.

Andreas ist nicht der Erste, der schon vor dem 14. Lebensjahr fürchten machte und der dann mit 14 die ärgsten Befürchtungen übertraf. Doch die rasende Fahrt vor der hilflosen Streitmacht der Streifenwagen, die sich nur darum bemühen konnte, noch Schlimmeres zu verhüten und dazu auf die Forderung auf freies Geleit bis zur Freundin eingehen musste - hat unvergessliche Bilder gebracht wie O. J. Simpsons Schreckensfahrt.

Diese Bilder werden der Hintergrund sein, wenn jetzt ein Rezept gefordert wird. Doch es gibt kein Rezept.

Den Eintritt der Strafmündigkeit vom 14. auf das 12. oder gar 10. Lebensjahr vorverlegen? Schließlich gibt es Bundesländer, in denen schon 16-Jährige wählen dürfen. Den jungen Menschen von 18 bis 21 die Möglichkeit nehmen, noch nach Jugendstrafrecht abgeurteilt zu werden? Geschlossene Anstalten schaffen, in die Gefährdete schon zehnjährig oder wenigstens wenn sie 12 sind eingewiesen und streng verwahrt werden können? Und vor allem - Strafmaße, die abschrecken, Vollzugsformen, die Übel zufügen, damit die Übeltäter am eigenen Leibe spüren, was sie getan haben.

Es ist unangemessen, derart harsche Forderungen einfach nur barsch abzulehnen. Die Vernunft hat immer für sich werben müssen. Heute muss sie das mehr denn je tun. Denn die Konflikte der Kinder und Jugendlichen mit den Gesetze genannten Regeln, die ein leidliches Zusammenleben ermöglichen sollen, sind ein Thema, das trotz des zunehmenden Unbehagens an der Überflutung durch Informationen jederzeit die Leser, Hörer und Zuschauer erreicht.

Es ist, bescheiden und ohne jeden Stolz auf dieses traurige Wissen, daran zu erinnern, dass die Älteren schon immer die Kinder und Jugendlichen dort mit Unbehagen betrachtet haben, wo sie in Konflikt mit den Spielregeln der jeweiligen Gesellschaft gerieten. Dieses Unbehagen hat im Mittelalter mit sich gebracht, dass man schon kindliche Diebe henkte.

Das Unbehagen ist verständlich. Denn wir wissen, dass die Kinder und Jugendlichen ein Spiegel des Zustands der Welt der Eltern, der Älteren sind. Zu der Einsicht, dass die Kindheit und die Jugend entscheidend von der Welt geprägt und geformt werden, in welche die Kinder und Jugendlichen hineinwachsen müssen, hätte es der Psychoanalyse eigentlich nicht bedurft.

Sie hat nicht entdeckt, sie hat daran erinnert, wie empfindlich und wie verletzlich Kindheit und Jugend für alles sind, was ihnen begegnet. Diese Erinnerung richtete einiges an - eine Abneigung gegen alles, was über die Schäden berichtet wurde, die einem Angeklagten in Kindheit und Jugend zugefügt worden waren. Über die ärgerliche unhappy-childhood-story hat sogar der Scheibenwischer Dieter Hildebrandt gelegentlich gelästert - unter großer Zustimmung seines Publikums. Wer hat, bitte, in Kindheit und Jugend nicht etwas angetan bekommen - ohne deshalb gleich mit dem Gesetz, mit den Spielregeln, in Konflikt zu geraten!

Die Antwort darauf, warum viele ihre Kindheit und Jugend ohne Folgen für ihr Leben überstehen und andere nicht, werden wir nie finden. Ein zusätzliches Chromosom, das darüber entscheidet, ob ein Mensch kriminell wird, hat sich nicht gefunden.

Vielleicht sollten wir uns dafür gewinnen lassen, anzuerkennen, dass es mit den Menschen so wie mit den Bäumen ist. Pflanzen wir sie ohne Rücksicht darauf, was ihr Wachstum braucht, so verkommen sie oder verkrüppeln. Das ist ein schlichtes Rezept. Auf das sollte man sich verständigen, bevor man überlegt, ob Schicksale wie das von dem holländischen Polizisten und ihm, dem Jungen, uns vielleicht erspart werden können.

Ohne Aufregung, ohne Pathos, ohne eine Auflage und Einschaltquote fördernde Dramatik muss schon auf dem Fußbreit Boden dieses wirklich schlichtesten aller Rezepte überlegt werden, was geschehen kann. Andreas ist ein beschädigter, junger Mensch. Wie soll man mit ihm umgehen, mit ihm und jenen, die bereits für andere und für sich selbst gefährlich sind?

Für fast jeden wird eine grundsätzliche Lösung falsch sein. Es wird darum gehen, einen Rahmen zu finden, der elastisch genug ist, das zu gestatten, was im einzelnen Fall helfen kann. Therapie braucht Spielräume - und Menschen, die sich dieser Aufgabe mit sozialer Fantasie annehmen. Soziale Fantasie muss nicht auf die Ferieninsel La Gomera führen.Gerhard Mauz war langjähriger Gerichtsreporter des "Spiegel", dem er auch heute noch als Autor verbunden ist. Seine Kolumne "Rechtswege" erscheint jeden Montag auf dieser Seite.

Gerhard Mauz

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