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Zerstörung durch Erdbeben: Jetzt werden in Haiti die Schulen wieder aufgebaut

Vor einem halben Jahr legte das Erdbeben viele Schulen Haiti in Trümmern. Doch inzwischen haben die Menschen Unglaubliches für den Wiederaufbau geleistet.

Es ist ein unsichtbarer Ring, der sich um den Brustkorb legt: Beklemmung. Doch dazu kommt Bewunderung. Tief durchatmen heißt es beim zweiten Besuch in Carrefour, oben auf dem steilen Hügel anderthalb Autostunden entfernt von Haitis Hauptstadt Port-au-Prince, wo einmal die Schule St. Francois de Salle stand. Hirn und Herz hämmern ins Bewusstsein: Beim Beben am 12. Januar haben hier die zusammenstürzenden Klassenzimmer 130 der 350 Mädchen und Jungen unter sich begraben und nicht einmal ihre kleinen Körper wieder hergegeben. Jetzt stehen wir dort, wo damals der Wind die Kinderhefte mit Ronaldo und all den anderen Fußballidolen darauf zauste, wo grüne Treppenstufen ins Nirgendwo ragten, Minnie Mouse von der Wand eines eingestürzten Klassenraums wie aus unwirklicher Ferne jedem ein Bienvenue („Willkommen“) zurief – die Schule ein Haufen aus Schutt und Schulheften, mittendrin verstörte Schwestern des Ordens Les Petites Soeurs de St. Thérèse de L’Enfant de Jesus und einige Kinder. Genau hier …

Genau hier? Unwirklich aufgeräumt ist es am Ende der steilen, schmalen Straße. Eine Palme wiegt sich im Wind auf dem weiten staubigen Plateau – von Trümmern keine Spur. Unglaubliches haben die Menschen geleistet, obwohl sie kein schweres Gerät hier hoch schaffen können. Mit Schippen, Hämmern, Eimern und Karren haben sie die Trümmer rund hundert Meter weiter in einen Abgrund gekippt. Aber so sehr sie auch Ausschau hielten, der Plan, die restlichen Opfer zu bergen, ließ sich nicht realisieren.

Welch ein Unterschied. Die Schwestern wachen wieder resolut über ihr Terrain. Die Schule soll rasch wieder aufgebaut werden, sie wollen 1200 Schüler unterrichten, sagt Schwester Lops selbstbewusst. Das schwarze Kabel des Headsets ihres Nokia-Handys kringelt sich über die hellblaue Tracht, ein vergoldetes Handtäschchen hat sie fest im Griff. Jetzt steht sie am Rande des Bauplatzes und hört, was Architekt Alvaro Arriagada an seinem Laptop erläutert. Noch sind sie sich mit dem 28-jährigen Architekten aus Chile nicht einig, wie groß das neue Gebäude und die Außenanlagen sein dürfen. Einige wollen eine Gedenkstätte für die Toten haben, mitten auf dem Platz bei der Palme.

Alvaro Arriagada wirbt geduldig für das Konzept, das er mit seinem Kollegen Alejandro Alvarez Rincon ausgearbeitet hat. Die Kindernothilfe hat die Architekten vom Büro Habiterra aus Santiago angeworben. Denn Chile hat die größte Erfahrung mit erdbebensicherem Bauen: „Wir haben in Chile die strengsten Bauvorschriften der Welt.“ Arriagada möchte eine Schule bauen, die sich in die Landschaft fügt, genug Licht und Luft und Platz zum Spielen bietet – ein ehrgeiziges Projekt auf engem Gelände. Drum wollen sie selbst das Dach zum Schulhof machen.

Erst im August werden sie wissen, was die Erkundung des Baugrunds ergeben hat, aber heute kommen sie einen entscheidenden Schritt weiter, wie die Gebäude angelegt werden können, um alle Kinder aufnehmen zu können. Schwester Lops und ihre Kolleginnen wollen nötigenfalls in zwei Schichten unterrichten: „Die Älteren können nachmittags kommen, das ist kein Problem“, sagt sie. Das haben sie vor dem Beben auch so gemacht. Lachend stellt sie sich mit Schwester Gisèle in den Schatten eines Baumes an der Kapelle, die beim Beben stehen geblieben ist.

Schüler sind längst wieder da, in strahlend blauen Uniformen, die Mädchen mit zahllosen blauen und weißen Spängchen und Schleifen im Haar. 1000 Kinder sind es schon. Zunächst hatten sie drei Zelte, die Kindernothilfe-Koordinator Jürgen Schübelin Unicef abgehandelt hatte. Er weiß, wie wichtig es ist, dass Kinder rasch wieder gewohnte Strukturen haben. Wenn sie zwei, drei Monate aus ihrem normalen Rhythmus gerissen werden, vergessen sie alles vorher Erlernte. „Wir können doch nicht eine ganze Generation Lagerkinder hier nur bespaßen“, sagt er und hat dabei auch die zahllosen Kinder in den Zeltstädten im Hinterkopf, die auf keine Ordensschwestern zählen können. „Wir müssen nachhaltig arbeiten“, betont Schübelin. Der 54-Jährige ist seit dem 18. Januar fast durchgehend in Haiti, er macht vor allem bei den Schulen Tempo. Jetzt, Ende Juni, haben sie in Carrefour sechs Doppelklassenzimmer – aus Zeltplanen, aber mit festem Rahmen und Regenrinnen, damit sie drinnen wirklich im Trockenen sind. Schübelins Maxime ist, die Infrastruktur möglichst dort wieder auf- und auszubauen, wo die Menschen zu Hause sind. Nur dann bleiben die Menschen auch dort oder kehren zurück. Deshalb ist er selbst in den unwegsamen Bergen aktiv.

„Sie können sich gar nicht vorstellen, was es bedeutet hat, als wir endlich wenigstens mit der Notschule anfangen konnten“, sagt Schwester Gisèle, während sie umsichtig einen kleinen Kanister unter das tropfende Ende eines Schlauchs bugsiert. „Das war wie ein neuer Anfang, auch für die Lehrer war es wichtig, dass die Kinder wieder da sind.“ Nach dem Beben „kamen wir aus unserer Erschöpfung gar nicht raus“. Sie lässt ihren Blick über das staubige Plateau und die unwirklich grünen Hänge gegenüber unter den tief hängenden grauen Wolken wandern. „Anfangs war das Schlimmste, dass alle durstig waren. Es gab kein Wasser und die Kinder hatten furchtbar Durst.“ Als endlich ein Wasserwagen kam, mussten sie mit allem, was sie zum Auffüllen hatten, den steilen Weg ein ganzes Stück hinunter. Der Laster schaffte es nicht bis oben. „Die Kinder kamen jeden Tag hierher, sie wollten zur Schule gehen, aber es gab doch nur die Ruinen. Ein Strom von Kindern“, blickt Gisèle versonnen auf die Kindermenge, „sie haben vor den Steinen gestanden und geweint. Und wir mit ihnen.“

Tief drinnen tragen sie alle den Schmerz. Aber sie haben sich ins Leben zurückgekämpft. Eine Küche gibt es noch nicht, auch an Sicherheit und Sanitäranlagen fehlt es noch. Wie Mahnmale ragen die vier Toiletten aus Beton am Rande des Geländes auf: Sie sind das einzige, was stehen geblieben ist am 12. Januar. Eben kommen Männer mit kleinen hölzernen Korbstühlen und neuen Schulbänken, die im Westen Haitis gezimmert wurden. Der Vermessungstrupp ist unterwegs. Nun warten alle auf den Baubeginn.

In Coupeau, drei Stunden Fußmarsch von Carrefour entfernt, durch ein Flussbett, einen steilen Hang hinunter und einen ebenso steilen Hang wieder hinauf, arbeitet das ganze Dorf, um die Schule hier wieder aufzubauen. Das ist so üblich, wenn es um Gemeinschaftsgebäude geht. Aber das bedeutet auch: lange Palaver. „Wenn der Kaffee morgens nicht schmeckt, reden wir zwei Stunden darüber, warum der Kaffee nicht geschmeckt hat“, erzählt Architekt Arriagada. Er ist einmal die Woche für ein paar Tage dort oben. Privatsphäre gibt es in dieser Zeit nicht. Alles Material muss über den Trampelpfad hinaufgeschafft werden – mit dem einzigen Transportunternehmer, der das mit seinen Maultieren übernehmen wollte, können sich die Architekten keinen Krach leisten. Doch: In vier Wochen könnte die Schule eingeweiht werden.

Wer hätte das Mitte Januar für möglich gehalten.

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