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Update

Zugunglück in Spanien: Lokführer gibt Tempoüberschreitung zu

Bei einem Zugunglück in Santiago de Compostela im Nordwesten von Spanien starben mindestens 80 Menschen, viele weitere wurden verletzt. Der Lokführer fuhr viel zu schnell. Jetzt ist ein Video aufgetaucht, das die ersten Sekunden der Katastrophe zeigt.

Anwohner hörten ein Krachen, die Erde schien zu beben. Dann plötzlich unheilvolle Stille und Rauchsäulen. Am Unglücksort fanden die ersten Helfer ein Horrorszenario: Umgestürzte und zertrümmerte Bahnwaggons. Einige hatten sich ineinander verkeilt. Die Wucht des Unglücks war so groß, dass ein Waggon samt Passagieren über eine zehn Meter hohe Schutzmauer geschleudert und teilweise zerfetzt wurde. Der letzte Waggon, an dem ein Triebkopf samt Dieseltank hing, brannte.

Das Zugunglück in Santiago de Compostela ereignete sich in einer Linkskurve

Der Schnellzug, der von der Hauptstadt Madrid in die nordspanische Fischerstadt Ferrol fahren sollte, entgleiste am Mittwochabend um 20.42 Uhr. Und zwar wenige Kilometer vor dem Bahnhof der berühmten Pilgerstadt Santiago de Compostela, in der Stunden später das Stadtfest für den Schutzheiligen Santiago eröffnet werden sollte. Das Unglück ereignete sich in einer engen Linkskurve, in der die Geschwindigkeit auf 80 Stundenkilometer begrenzt war.

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„Ich bin mit 190 gefahren“, soll der nur leicht verletzte Lokführer kurz nach der Katastrophe bei einer ersten Befragung zugegeben haben. Warum, sagte er offenbar nicht. Das Video einer Sicherheitskamera, in dem man sieht, wie der Zug mit großer Gewalt gegen eine Begrenzungsmauer kracht, scheint die Aussage des Maschinisten zu bestätigen.

Der Lokführer soll auf Anordnung des Ermittlungsrichters als Beschuldiger vernommen werden. Gewerkschaften nahmen den erfahrenen 52-Jährigen aber in Schutz und behaupteten: Schuld war das ungeeignete Tempokontrollsystem.

Weshalb reduzierte der Lokführer nicht wie vorgeschrieben das Tempo in dieser Kurve, die als „schwierig“ galt? Warum raste er blindlings in die Katastrophe? Auch auf die Frage, warum es auf der Strecke kein automatisches Bremssystem gab, das  heute vielerorts zum Sicherheitsstandard gehört, gab es zunächst keine Antwort.

Rund 260 Fahrgästen saßen in dem Schnellzug mit 13 Waggons. Zunächst war von etwa 220 Passagieren die Rede. Auch ausländische Touristen reisten mit. Pilger, die nach Santiago wollten.

Die Triebwagen des Zuges vom Typ Alvia kann mit Strom, aber auch mit Diesel fahren, und eine Spitze von 250 Stundenkilometer erreichen. Der Unglückszug hatte fünf Minuten Verspätung. War der Lokführer deswegen mit Vollgas gefahren?

Spaniens Verkehrsministerin Ana Pastor wandte sich gegen Spekulationen und mahnte zur Vorsicht: „Wir kennen noch nicht die Ursachen des Unglücks.“ Polizei und Bahningenieure untersuchten die Zugtrümmer. Die Ermittler hoffen, mit der Auswertung der „Blackbox“, in der alle Fahrdaten aufgezeichnet werden, Klarheit über den Hergang der Tragödie zu bekommen.

Die ganze Nacht bargen die Retter Verletzte und Tote. Die fürchterliche Bilanz am Donnerstagabend: 80 Tote. Unter den Todesopfern ist der in Spanien bekannte Radiojournalist Enrique Beotas. Ums Leben kam auch Rosalina Ynoa, eine ranghohe Beamtin im Entwicklungsministerium der Dominikanischen Republik, die ihrer Schwester in Santiago einen Überraschungsbesuch machen wollte.

Nach Angaben des Auswärtigen Amts in Berlin gab es zunächst keine Hinweise darauf, dass Deutsche betroffen seien. Der Koordinator des Projekts Deutschsprachige Pilgerseelsorge in Santiago, Wolfgang Schneller, war anderer Meinung: „Es ist wohl zu befürchten, dass auch Deutsche von diesem Unglück betroffen sind. Wir haben diese Informationen von einem Hotel, in denen wohl deutsche Pilger gewohnt haben. Unsere Seelsorger haben sich auf den Weg gemacht, um Näheres zu erfahren“, sagt Schneller.

Wie der stellvertretende Regierungschef der Autonomen Region Galicien, Alfonso Rueda, am Donnerstag in Santiago de Compostela weiter mitteilte, wurden bisher 53 Tote identifiziert. Kurz zuvor hatte die Regierung Galiciens bekanntgegeben, dass 83 der insgesamt 178 Verletzten, die nach dem Unglück am späten Mittwochabend in Krankenhäuser gebracht worden waren, inzwischen entlassen worden seien. 32 Erwachsene und vier Kinder seien noch „in kritischem Zustand“, hieß es weiter.

Die Zahl der Todesopfer könnte noch steigen, warnten die Behörden. Auch die Identifizierung mancher Leichen sei schwierig. Einige Opfer seien verstümmelt worden. Die Bevölkerung wurde zu Blutspenden aufgerufen.

Besonders schlimm hatte es den hinteren Teil des Zuges erwischt: Der gesamte Zugkonvoi war auseinandergerissen worden. Der Triebwagen und die ersten vier Waggons sprangen aus den Schienen und blieben im Gleisbett stehen. Ein Wagen in der Zugmitte wurde in die Luft geschleudert und landete hinter einer zehn Meter hohen Schutzmauer und fast im Vorgarten einiger nahen Häuser. Die hinteren Waggons überschlugen und verkeilten sich auf der Bahnstrecke.

Regierungschef Mariano Rajoy kam zum Ort des Zugunglücks von Santiago de Compostela

Feuerwehrleute und Ärzte berichteten von grausigen Momenten: Manchen Körpern seien der Kopf oder Gliedmaßen abgetrennt worden. Andere Opfer seien aus den Fenstern geschleudert und dann „von umstürzenden Wagen begraben“ worden. Handys klingelten in den Taschen einiger Todesopfer, die am Bahndamm aufgereiht unter Tüchern und Decken lagen. Blutüberströmte Menschen werden auf Bahren weggetragen.

Die Horrorszenen vom Unglücksort erinnerten viele Spanier an die Bilder vom Terroranschlag auf vier Vorortzüge in Madrid am 11. März 2004. Damals waren bei einem islamistischen Bombenattentat 192 Menschen ums Leben gekommen. Doch dieses Mal erklärt schon Stunden nach dem Drama ein spanischer Regierungssprecher: „Es gibt keine Hinweise auf einen Terroranschlag.“

Die Aussagen von Passagieren und auch Anwohnern der Zugstrecke sind widersprüchlich: „Als der Zug in die Kurve ging, hatte ich das Gefühl, dass wir zu schnell fuhren“, sagte ein junger Mann namens Sergio, der dem Inferno leicht verletzt entkam. Anwohner berichteten derweil, sie hätten so etwas wie eine „große Explosion“ gehört. „Ein Krachen, als ob sich ein Erdbeben ereignet hätte.“ Höllenlärm, der nach Meinung der Experten aber auch durch einen zerstörerischen Aufprall verursacht worden sein könnte.

Am Donnerstagmorgen kam Spaniens konservativer Regierungschef Mariano Rajoy zum Unglücksort. Leichenblass nahm er den Ort des Schreckens in Augenschein. Versprach eine „schnellstmögliche Aufklärung“ der Katastrophe. Die Unglücksregion Galicien ist seine Heimat. König Juan Carlos sprach in einer Beileidsbotschaft an die Angehörigen der Opfer von einem „schrecklichen Unfall“, welcher die ganze Nation „mit Schmerz und Traurigkeit fülle“.

Dreitägige Staatstrauer wegen des Zugunglücks

Die Region Galicien verhängt eine dreitägige Staatstrauer. Das mehrtägige Volksfest in Santiago de Compostela, mit dem gerade der Namenstag des heiligen Santiago gefeiert werden sollte, wurde abgesagt. In der Stadt leben etwa 100.000 Menschen. Die Kathedrale des Ortes ist das Ziel von hunderttausenden Jakobspilgern, die jedes Jahr über den Jakobsweg nach Santiago wandern.

Die Zug-Katastrophe von Santiago de Compostela ist die zweitschlimmste in der Geschichte des spanischen Königreiches. Auf der gleichen Strecke, von Madrid nach Galicien, war 1944 ein Passagierzug gegen eine Rangierlok geprallt. Damals sollen rund 500 Menschen gestorben sein. Zu dieser Zeit herrschte Diktator Francisco Franco, der die genaue Opferzahl geheim hielt.

Das Unglück in Santiago ist zugleich das zweitschwerste in der europäischen Nachkriegsgeschichte. Die schlimmste Zugkatastrophe hatte sich 1998 im deutschen Eschede ereignet, als ein ICE auf dem Weg von München nach Hamburg entgleiste und 101 Menschen starben. (mit dpa)

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