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Wirtschaft: „Amerikaner bekommen eher neue Medikamente“

Schering-Chef Hubertus Erlen über die Vorteile der USA, die hohe Arbeitslosigkeit und die Chancen eines Konjunkturprogramms

Herr Erlen, Deutschland hat 5,2 Millionen Arbeitslose, die Unternehmen machen Rekordgewinne und entlassen trotzdem. Wo bleibt die Verantwortung der Firmen?

Als Unternehmer in diesem Land besteht unsere Verantwortung darin, eine Balance herzustellen. Wir müssen die Interessen unserer Kunden, unserer Mitarbeiter und unserer Eigentümer austarieren.

Und das gelingt?

Wir tragen Verantwortung für die Wirksamkeit unserer Produkte und damit dafür, dass Menschen gesund werden. Das ist das Wichtigste. Wir tragen außerdem Verantwortung gegenüber unseren Mitarbeitern, deren Lebensgrundlage wir sichern, und gegenüber unseren Aktionären, die uns ihr Kapital anvertraut haben. Diese Verantwortung auszubalancieren, ist eine der zentralen und zugleich schwierigsten Herausforderungen unternehmerischen Handelns. Ich glaube, dass unsere Mitarbeiter das auch so sehen – und dass sie mittragen, was wir tun.

In der Bevölkerung ist allerdings die Einschätzung weit verbreitet, dass die Unternehmen nur darauf achten, ihre Gewinne zu steigern – auf Kosten der Gesellschaft.

Wir machen in Deutschland zehn Prozent unseres Umsatzes. Aber wir beschäftigen hier 40 Prozent unserer Mitarbeiter und zahlen 50 Prozent unserer Steuern und Abgaben.

Aber auch Sie fahren ein Sparprogramm, obwohl Sie doch gerade wieder einen Rekordgewinn eingefahren haben.

Wir haben im vergangenen Jahr die Mitarbeiter voll am Unternehmenserfolg beteiligt. Das hält uns aber nicht davon ab, gleichzeitig Strukturveränderungen und notwendige Einschnitte vorzunehmen, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Und auch nicht davon, viel Geld in Forschung und Entwicklung zu stecken. Nur alles zusammen sichert unsere Zukunft.

Die Manager in Deutschland haben kein Glaubwürdigkeitsproblem?

Wir wollen die Voraussetzungen dafür schaffen, dass wir auch in Zukunft erfolgreich sind. Natürlich gibt es ein Spannungsfeld zwischen diesen Anstrengungen und der sozialen Verantwortung, die wir haben. Aber: Wenn wir nicht wettbewerbsfähig bleiben, erzeugen wir für unsere Unternehmen gravierende Risiken, die dann auch die soziale Schieflage in Deutschland verschärfen. Trotzdem beschäftigt uns sehr, wie wir das in Deutschland brennendste Problem, die Arbeitslosigkeit, in den Griff bekommen.

Haben Sie einen Vorschlag?

Dazu müssen die Unternehmen einen Beitrag leisten, dazu muss aber auch der Staat einen Beitrag leisten, indem er die Rahmenbedingungen schafft. Ohne dass beides zusammenkommt, werden wir das Problem nicht lösen. Die Grundlage für neue Arbeitsplätze ist Wachstum. Es ist schon ein enttäuschendes Ergebnis, wenn Deutschland selbst im konjunkturell guten Jahr 2004 die Schlusslaterne im internationalen Wachstum tragen muss. Wir müssen darüber nachdenken, wie wir Wachstum stimulieren.

Hilft ein Konjunkturprogramm?

Wenn die Regierung tatsächlich beschließt, durch steuerliche Anreize oder Entlastungen die Investitionstätigkeit anzuregen, dann wäre dies ein richtiger Schritt. Eine notwendige Ergänzung ist aber, dass der Bundeskanzler zugleich ankündigt, dass die Reformen ohne Unterbrechung fortgesetzt werden. Wir haben ein strukturelles Wachstumsproblem. Daher müssen wir weiter über die Kostenbelastungen reden, also zum Beispiel über Gebühren und Abgaben. Wir haben nach wie vor die höchste Belastung von Unternehmen in Europa. Auch die Lohnzusatzkosten müssen weiter gesenkt werden.

Krankenversicherungsbeiträge sind auch Lohnzusatzkosten. Es waren auch die Pharmaunternehmen, die bei der Senkung der Lohnzusatzkosten auf der Bremse standen. Sie haben sich zum Beispiel heftig gegen die neuen Festbeträge gewehrt, die die Arzneimittelausgaben begrenzen sollen.

Es ist eine große Herausforderung, die Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems zu erhalten. Hierzu gehört auch die Senkung der Kosten. Sparen kann man aber auch, ohne die Zukunft einer forschungsintensiven Industrie zu gefährden. Innovationen müssen im Interesse der Patienten weiter möglich sein.

Und wo soll dann gespart werden?

Zum Beispiel da, wo es der Einzelne selbst in der Hand hat, durch eigenes Verhalten Kosten zu senken. Ich finde es völlig richtig, dass jeder Patient pro Quartal eine Praxisgebühr bezahlt. Und ich finde es auch richtig, dass er ab Sommer an den Kosten für Zahnersatz stärker beteiligt wird. Ich setze mich für die Balance von Solidarität, sozialer Absicherung und Eigenverantwortung ein.

Wo ist die Balance, wenn die Belastungen bei den Patienten landen?

Wichtig ist doch, dass die Solidargemeinschaft weiterhin in der Lage ist, die wirklich großen Risiken abzusichern und da einzustehen, wo es der Einzelne nicht mehr kann. Wer Krebs hat, braucht die Solidargemeinschaft. Wer sozial schwach ist, braucht die Solidargemeinschaft. Aber: Viele Krankheiten entstehen, weil Menschen sich nicht vernünftig verhalten. Hier müssen Anreize für mehr Eigenverantwortung gesetzt werden.

Warum investieren deutsche Pharmaunternehmen lieber in den USA als hier?

Die Forschungsdynamik in den USA ist größer. Es gibt dort eine breitere Grundlagenforschung und einen sehr flexiblen Übergang von akademischer Forschung in privatwirtschaftliche Strukturen. Das erzeugt einen Sog für Unternehmen, für Forscher und für Gründer. Außerdem gibt es einen attraktiven Markt für neue Arzneimittel, die wir dort zu sehr guten Preisen verkaufen können. Das erzeugt weit überproportionale Wachstumsraten. Das ist auch ein Grund, warum viele hoch qualifizierte deutsche Forscher lieber in die USA gehen.

Warum geht Schering nicht ganz in die USA?

Weil Deutschland auch sehr viele Vorteile und Stärken hat, das dürfen wir doch nicht vergessen: Wir sind zum Beispiel stark in den Disziplinen Chemie und Biochemie, in Prozessabläufen und Technik. Wir haben hoch qualifizierte Mitarbeiter, und zwar nicht nur in der Forschung, sondern auch auf der Ebene der Facharbeiter und Laboranten. Das ist für die Produktionsabläufe in Pharmaunternehmen unverzichtbar. Wir müssen in den USA erfolgreich sein – aber eben auch in Europa und Deutschland.

Wo muss Deutschland besser werden?

Wenn wir es einmal vom Patienten her betrachten, dann ist die Sache ganz einfach: Ein amerikanischer Patient kommt eher an neue Medikamente als ein Patient in Deutschland. Weil dort alles schneller geht, weil die Zulassungsbehörde schneller prüft, weil die Medikamente schneller auf den Markt kommen. Das müssen wir auch hier erreichen.

Und dafür in Kauf nehmen, dass Medikamente unsicherer werden, wie die Rücknahmen des Cholesterinsenkers Lipobay oder des Schmerzmittels Vioxx zeigen?

Die Aufsicht ist sehr sorgfältig, aber menschliches Handeln, gerade bei neuen Medikamenten, beinhaltet immer ein Risiko. Und es ist doch nicht so, dass nur die Pharmaunternehmen schnelle Markteinführungen anstreben. Die Patienten selbst wirken als treibende Kraft: Es sind die HIV- und Krebspatienten, die zu Recht verlangen, dass Medikamente schnell auf den Markt müssen. Hier muss eine gute Balance zwischen zeitnaher Hilfe für Kranke und der Sicherheit neuer Produkte gefunden werden.

Kritiker werfen der Pharmaindustrie vor, nur positive Arzneimittelstudien zu veröffentlichen, die negativen aber in der Schublade zu lassen. Haben sie Recht?

Es gibt ein neues Übereinkommen, wonach künftig auch in Europa alle Pharmastudien nach der Zulassung des entsprechenden Medikaments veröffentlicht werden. Das ist ein entscheidender Schritt – vor allem für die behandelnden Ärzte, die ihre Patienten dann individueller beraten und betreuen können.

Warum erst jetzt?

Zunächst einmal wurden auch bisher alle Studien den Behörden vorgelegt.

…was aber weder den Lipobay- noch den Vioxx-Skandal verhindern konnte.

Manchmal braucht man Anlässe und nicht vorhergesehene Ereignisse, um auf Forderungen nach mehr Transparenz aufmerksam zu werden. Bisher waren wir vor allem aus Wettbewerbsgründen sehr vorsichtig mit der Veröffentlichung unserer Ergebnisse. Wir lernen auch dazu.

Das Interview führten Maren Peters und Ursula Weidenfeld.

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