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Buchstabensuppe. Ein UN-Aktionstag erinnert an Analphabetismus. Foto: ddp

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Analphabetismus: Im Labyrinth der Buchstaben

Vier Millionen Menschen in Deutschland können nicht richtig lesen und schreiben, allein in Berlin leben 160.000 Analphabeten. Wirtschaftliche Schäden in Milliardenhöhe sind die Folgen.

Berlin - Vier Millionen Menschen in Deutschland können diesen Text nicht richtig lesen – weil sie Analphabeten sind. Schätzungsweise 160 000 davon leben in Berlin, weltweit sind es 760 Millionen. Sie sind oft arm, isoliert und von anderen Menschen abhängig. Wirtschaftliche Schäden in Milliardenhöhe sind die Folgen. Daran erinnert der 45. Internationale Tag der Alphabetisierung, mit dem die Unesco am heutigen Mittwoch auf das Problem aufmerksam machen will.

„Analphabetismus ist teuer und schadet der Wirtschaft“, sagt Andreas Brinkmann vom Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung (BVAG). Denn wer wenig gelernt hat oder nicht lesen und schreiben kann, ist eher arbeitslos. Er zahlt also keine Steuern und bezieht vom Staat Sozialleistungen.

Schlechte Bildung bei jungen Menschen, also auch Analphabetismus, könnte in den kommenden Jahren für die Gesellschaft extrem teuer werden. Die Bertelsmann-Stiftung hat 2009 berechnet, dass in den kommenden 20 Jahren ein Schaden von 69 Milliarden Euro entstehen könnte. Heute ist jeder fünfte Jugendliche schlecht gebildet. Die meisten seien funktionale Analphabeten, sagt BVAG-Experte Brinkmann – Menschen also, die nur auf dem Niveau eines Zweitklässlers schreiben und lesen können, obwohl sie eine Schule besucht haben.

Wenn Analphabeten einen Job finden, dann meist einen schlecht bezahlten. Doch das Angebot in diesem Bereich wird immer kleiner. „Einfache Arbeitsplätze werden wegrationalisiert und mit Robotern und Computern besetzt“, sagt BVAG-Geschäftsführer Peter Hubertus. „Schreiben und Lesen ist mittlerweile auch bei einfachen Jobs erforderlich.“ Formulare müssen ausgefüllt, Rechnungen geschrieben, Arbeitsabläufe dokumentiert und Sicherheits- oder Arbeitsanweisungen gelesen werden.

Wer sich mit Schreiben und Lesen schwertut, versucht oft, sich zu tarnen. „Viele handeln Deals mit den Kollegen aus. Sie bringen etwa den Müll weg, nur um nicht schreiben zu müssen“, erzählt Brinkmann. So machten sie sich abhängig und lebten ständig in der Angst, entdeckt zu werden. Dabei ist Analphabetismus kein Kündigungsgrund – jedenfalls solange die Qualität der Arbeit stimmt. Einige Firmen zeigten allerdings Verantwortung und zahlten ihren Beschäftigten Lese- und Schreibkurse, sagt Brinkmann.

Wer es schafft, das Internet zu benutzen, kann dort spezielle Seiten besuchen. Etwa 250 000 Menschen nutzen ein Online-Lernportal des DVV, wo sie sich per Bild und Ton die Welt der Buchstaben erschließen können. Für Fortgeschrittene gibt es ein neues soziales Netzwerk namens „AlphaVZ“. Hier können sie ähnlich wie auf Facebook Kontakt knüpfen.

Mehr als 3000 Lese- und Schreibkurse pro Jahr bieten zudem die Volkshochschulen an. Doch zu wenige Analphabeten nehmen dem Deutschen Volkshochschul-Verband (DVV) zufolge daran teil. Auch wegen des Geldes: Zwei Unterrichtsstunden kosten bis zu fünf Euro – das ist für viele der oft arbeitslosen Analphabeten zu teuer. Die Bundesagentur für Arbeit fühlt sich nicht zuständig. „Alphabetisierung fällt in den Bereich der Allgemeinbildung – das ist Sache der Länder, nicht des Bundes“, sagt BVAG-Chef Hubertus. Es mangele hierzulande an Koordination, bemängelt er. „In Deutschland fehlt eine zentrale Stelle, die gezielt Alphabetisierung fördert.“

Anders in Frankreich – dort gibt es seit dem Jahr 2000 eine nationale Agentur, in der verschiedene Ministerien zusammenarbeiten. Sie soll funktionalen Analphabetismus bekämpfen. Denn Paris weiß: Lesen lehren kostet zwar Geld, es nicht zu tun, ist aber noch teurer.Severine Weber

Severine Weber

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