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Arbeitsmarkt: Ein neues Jobwunder?

Die neuen Arbeitslosenzahlen zeigen: Der Arbeitsmarkt trotzt weiter der Krise. Warum die Firmen weniger entlassen als befürchtet – und wo die Statistik trügt. Eine Analyse.

Das erste deutsche Jobwunder des Jahrzehnts begann 2005. Seit damals sank die Zahl der Arbeitslosen, in drei Jahren auf rund 3,2 Millionen Personen. Im Sommer 2008, dem Höhepunkt des Aufschwungs, waren so wenige Menschen arbeitslos wie zuletzt 1993. Nun vollzieht sich am deutschen Arbeitsmarkt womöglich ein zweites Wunder. Die Wirtschaft soll in diesem Jahr um mehr als sechs Prozent schrumpfen. Aufträge, Produktion und Exporte fallen in sich zusammen – am Arbeitsmarkt aber ist hiervon bislang wenig zu spüren. "Es läuft alles erstaunlich moderat ab", sagt Sabine Klinger vom Nürnberger Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB).

Daran ändert sich auch  im Juni nichts. Die Zahlen, die die Bundesagentur für Arbeit (BA) am Dienstag veröffentlichte, sind nicht gut – aber sie sind eben auch kein großes Unglück. Ihnen zufolge waren im Juni 3,41 Millionen Menschen arbeitslos, 250.000 mehr als vor einem Jahr. Das entspricht einer Arbeitslosenquote von 8,1 Prozent; 0,6 Prozentpunkte mehr als im Juni 2008.

"Verglichen mit anderen Staaten kommen wir bislang glimpflich davon", sagt Karl Brenke, Arbeitsmarktexperte des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung. In den USA zum Beispiel sprang die Arbeitslosenquote auf 9,4 Prozent. Zuletzt waren in den USA nach der zweiten Ölkrise so viele Menschen arbeitslos gewesen. In Deutschland sind zwar im Juni 2009 deutlich mehr Personen ohne Job, aber eben nicht mehr als zu Beginn des Boomjahres 2007.

Woran liegt das? Wie lange geht das noch gut? Spiegelt die Statistik nur die halbe Wahrheit wider? ZEIT ONLINE klärt die wichtigsten Fragen.

Ist die Arbeitslosigkeit in Deutschland nur deshalb so niedrig, weil viele Unternehmen Kurzarbeit angemeldet haben statt zu entlassen?

Ja und Nein. Richtig ist, dass die Unternehmen im März dieses Jahres für 1,1 Millionen Personen Kurzarbeit angemeldet haben. Das entspricht etwa 360.000 Vollzeitstellen. Hätten die Unternehmen diesen Angestellten gekündigt, statt sie weniger arbeiten zu lassen, wäre die Arbeitslosenzahl heute weit höher. Doch selbst wenn man das berücksichtigt, ist die Lage am deutschen Arbeitsmarkt verhältnismäßig gut. Nimmt man etwa an, dass rund ein Drittel der Kurzarbeiter, rund 350.000 Menschen, ohne die Regelung arbeitslos geworden wären, läge die Zahl der Arbeitslosen heute bei etwa vier Millionen. Damit wären immer noch eine halbe Million weniger Menschen arbeitslos als im Mai 2006, mitten im Aufschwung.

Warum trifft die Krise den deutschen Arbeitsmarkt weniger stark als den britischen oder amerikanischen?

Eine Erklärung geht so: Der Arbeitsmarkt ist ein nachlaufender Indikator. Weil es in Deutschland mit der Konjunktur einige Monate später als in den USA bergab ging, reagiert der Arbeitsmarkt hier einfach mit Verzögerung.

Hilmar Schneider vom Institut zur Zukunft der Arbeit (IZA) sagt, das stimme nicht ganz. Er glaubt einstweilen nicht, dass die Krise den Arbeitsmarkt hierzulande ähnlich hart treffen wird wie in Amerika. Ein Grund sei der rigide Kündigungsschutz in Deutschland. Der sei zwar keineswegs neu. Seit die Regierung aber Arbeitgebern und Arbeitnehmern den Weg in die Frührente erschwere, beginne er richtig zu greifen. "Das Spiel, dass man Ältere mit staatlicher Unterstützung aus dem Erwerbsleben herausgekauft hat, funktioniert nicht mehr", sagt Schneider.

Den Unternehmen bleibe nur noch die klassische Kündigung – und die kostet Geld. Deshalb versuchten die Firmen ihre Beschäftigten während der Krisenzeit zu halten. Andere denken bereits jetzt an die Zeit nach der Krise. Weil in Zukunft weniger Menschen auf den Arbeitsmarkt drängen, werden schon bald Fachkräfte knapp werden. "Heute entlässt kein Unternehmen mehr mutwillig Leute", sagt Schneider.

Aber spiegelt die Zahl aus Nürnberg nicht nur einen Teil der Misere am Arbeitsmarkt wider? Viele Arbeitslose tauchen in der Statistik doch gar nicht auf, weil die Politik trickst!

Stimmt. Einer Schätzung des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung zufolge werden bereits heute rund 1,2 Millionen Menschen von der Nürnberger Statistik nicht erfasst. Dazu zählen zum Beispiel Arbeitslose, die eine Schulung absolvieren, die krank geschrieben sind oder mit einem Ein-Euro-Job beschäftigt werden.

Seit dem 1. Januar tauchen in der Statistik auch solche Arbeitslose nicht mehr auf, die von einem externen Vermittler betreut werden. Wie viele das sind, ist strittig. Die Schätzungen reichen von 20.000 bis 200.000. Das verfälscht die Statistik zusätzlich. An der Grundtendenz ändert es aber nichts. Der Arbeitsmarkt ist stabiler, als viele erwartet haben.

Stimmt es, dass bislang vor allem Beschäftigte mit schlechten Verträgen ihren Job verloren haben?

Auch hier muss man differenzieren. Richtig ist, dass viele Zeitarbeiter in Deutschland in der Krise arbeitslos wurden. Im Mai zählte der Sektor nur noch 507.000 Beschäftigte, ein Drittel weniger als im Schnitt des Vorjahres.

Geringfügig Beschäftigte verloren aber nicht überdurchschnittlich oft ihren Job. Ihre Zahl stieg in den ersten Monaten dieses Jahres sogar an, Angaben der BA zufolge um 0,6 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Haben die Unternehmen etwa reguläre Jobs durch geringfügige Beschäftigung ersetzt? "Eher nicht", meint Expertin Klinger. Denn dafür hätte auch die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Jobs überdurchschnittlich sinken müssen. Das zeigen die Arbeitsmarktdaten aber nicht.

Wen trifft die Krise noch?

Eher Männer als Frauen, sagt die Statistik. Denn Männer arbeiten eher in exportorientierten Branchen wie dem Maschinenbau oder der Autoindustrie, die in der Krise schwere Einbußen hinnehmen müssen. Frauen hingegen sind oft im Dienstleistungssektor beschäftigt, im Einzelhandel etwa. Dort ist die Rezession noch nicht so stark zu spüren.

Auffällig ist auch, wie unterschiedlich die Krise die verschiedenen Regionen in Deutschland trifft. In Ostdeutschland steigt die Arbeitslosigkeit etwa weit weniger stark als in Süddeutschland. Der Grund: In den einstigen Boomzentren der deutschen Wirtschaft lebt man vom Export, um den ist es derzeit schlecht bestellt ist.

Noch mag der deutsche Arbeitsmarkt solide dastehen. Wie lange geht das noch gut?

Hierauf kann keiner eine verlässliche Antwort geben. Allerdings verfügt die BA über eine Art Frühwarnsystem. Weil viele Beschäftigte erst nach einer gewissen Kündigungsfrist entlassen werden können, melden sie sich bereits drei Monate, bevor sie ihre Stelle verlieren, in den Jobcentern. Dadurch kann die BA teilweise vorhersehen, wann der Einbruch kommt. Noch registrieren die Beamten aber keine größere Kündigungswelle. Das kann bedeuten, dass die Entwicklung am Arbeitsmarkt bis September eher harmlos bleibt.

Dennoch gehen viele Experten davon aus, dass im Herbst viele Unternehmen Mitarbeiter entlassen müssen, wenn bis dahin die Auftragslage nicht besser wird. "Auf Dauer", sagt Hilmar Schneider, "kann kein Unternehmen ohne Entlassungen auskommen, wenn es rote Zahlen schreibt".

ZEIT ONLINE

Philip Faigle

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