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Thomas Auer an seinem Arbeitsplatz in der bayerischen Pfandbriefbank. Er ist Autist.

© Andreas Heddergott

Besondere Begabungen: Wie Autisten in der Wirtschaft Erfolge feiern

Der versteckte Fehler: Erst mit 33 Jahren bekam Thomas Auer die Diagnose - er ist Autist. Das verschaffte dem Arbeitslosen einen Job bei der Bank.

Von Maris Hubschmid

Um zehn nach sieben nimmt Thomas Auer den Regionalzug zur Arbeit. Er trägt Hemd, Pullover, Mütze und Rucksack. Im Büro wird er seinen Computer einschalten und sich einen Kaffee holen.

Thomas Auer ist nicht normal.

„So schnell wie Herr Auer arbeitet sonst kaum jemand“, sagt sein Teamleiter. „So gründlich wie Herr Auer arbeitet sonst auch kaum jemand“, sagt sein Abteilungsleiter. „Haben Sie es schon gehört?“, fragt ein Kollege. „Herr Auer spricht sieben Sprachen.“

Thomas Auer ist ein Mann mit besonderen Qualitäten. Es hat gedauert, ehe andere das begriffen haben. Früher, da wussten die Menschen bloß, dass er anders ist.

In der Schule hatte er es schwer

„Haben Sie Ihren Sohn schon untersuchen lassen?“, fragten Erzieher und Lehrer, kaum, dass sie den kleinen Thomas kannten. Der brachte es in vielen Fächern nur mit Mühe auf eine Vier. Er tobte auch nicht mit den anderen Kindern. Er stand am Rand und war ganz bei sich.

Seine Eltern schleppten ihn von einem Therapeuten zum nächsten. Sie wollten ihm helfen und wussten nicht, wie. Erst, als er auf eine Förderschule ging, fand er Gefallen am Lernen. Da nannte man ihn Streber. „Mir war das egal“, erzählt er.

Thomas Auer, 37, blond, mittelgroß, ist Autist. In der Bank, in der er arbeitet, weiß man das. Mehr noch: Man findet das gut. Einen wie Thomas Auer, sagen sie, haben sie gesucht.

Auch Thomas Auer hat gesucht. Bevor er zur Bank kam, war er arbeitslos. Und 33 Jahre alt musste er werden, ehe ihm endlich jemand sagte, was das ist, das ihn anders macht als seinen jüngeren Bruder.

Die Symptome sind oft nicht eindeutig

„Autismus ist schwer zu erkennen“, sagt Dieter Hahn. Er leitet den Standort der Firma Auticon in München. Die hat Auer eingestellt und in das Projekt in der Bank vermittelt, die jetzt so zufrieden mit ihm ist. Als erstes Unternehmen in Deutschland beschäftigt Auticon ausschließlich Autisten. Ihren Sitz hat die Firma in Berlin. Ihr Gründer, Dirk Müller-Remus, hat selber ein autistisches Kind. Statt die Eigenheiten von Autisten schlicht zu akzeptieren, will er ihre logisch-analytischen Stärken für andere nutzbar machen – indem er sie zu Beratern im IT-Bereich schult.

Nur selten seien die Symptome für Autismus eindeutig, sagt Dieter Hahn. Häufig geht Autismus mit ADHS, Schizophrenie oder Depression einher. In vielen Fällen wird die Krankheit deshalb spät oder nie erkannt.

Dass Thomas Auer im Jahr 2010 bei einem Experten landet, der die entscheidenden Fragen stellt, ist auch mehr Ausdruck der Ratlosigkeit seiner Ärzte als ihres Urteilsvermögens. Er soll Bilder aus der Erinnerung nachzeichnen und Logikaufgaben lösen. Und siehe da: Das klappt toll.

Autisten wie „Rain Man“ sind die Ausnahme

„Rain Man“ ist alles, was vielen zum Thema Autismus einfällt. Dustin Hoffman in seiner Rolle als Superhirn. Doch der sogenannte Savant, die Inselbegabung, ist lediglich eine Form von Autismus – und zwar die seltenste. Gerade mal 100 Betroffene gibt es weltweit.

Weit häufiger ist die Form von Autismus, um die es sich bei Thomas Auer handelt. Geschätzt 0,3 Prozent der Bevölkerung haben das Asperger-Syndrom. „Alles, was für Autisten als charakteristisch gilt, zeigt sich bei Aspergern in abgeschwächter Form“, sagt Hahn. Neunzig Prozent von ihnen sind Männer.

Asperger wie Thomas Auer sind nur wenig kommunikativ. Dafür haben sie besondere Begabungen. Eine Neun in einer Reihe von Dreien: Thomas Auer sieht sie sofort. Eine Wiederholung in einem seitenlangen Buchstabencode: Er findet sie. Autisten denken in Mustern.

Dax-Konzerne erkennen die Chance

Immer mehr große Firmen erkennen, dass ihnen diese Fähigkeiten sehr zugute kommen. Die Liste der prominenten Kunden von Auticon wächst. Die Telekom, Infineon und Rohde & Schwarz sind nur einige, die schon darauf stehen.

Die Pfandbriefbank in Unterschleißheim bei München arbeitet seit Oktober 2012 mit Auticon zusammen. „Was Herr Auer hier tut, ist für die Bank sehr wichtig“, sagt sein Chef. Das Institut finanziert gewerbliche Immobiliengeschäfte und Investitionen der öffentlichen Hand. Agiert mit Millionen sensibler Daten jeden Tag.

Von neun bis 17 Uhr an vier Tagen in der Woche sorgt Thomas Auer dafür, dass diese Daten dieselbe Sprache sprechen. In einem groß angelegten Projekt unterstützt er das IT-Team dabei, die Qualität der Datenbanken zu verbessern. Abteilungen mit Namen wie „Risk“ und „Finance“ legen ihm ihre Ergebnisse vor. Dann analysiert er Software, gleicht Zahlen und Buchstabenreihen ab. „Mit einer Konzentration und Ausdauer, die uns anderen oft fehlt“, sagt sein Sitznachbar.

Zahlen sind seine Welt

Einmal haben die Kollegen ihn getestet. „Schaffst Du es, die fünfzig ersten Nachkommastellen von Pi an einem Nachmittag auswendig zu lernen?“, fragten sie. Die Wette hat er gewonnen.

Vorher dagegen lief es oft nicht so gut für ihn. Nach seiner Ausbildung zum Fachinformatiker fand er keine Festanstellung. Er sei nicht der passende Kandidat, das hörte er oft. „Viele unserer Mitarbeiter haben es in der Berufswelt bisher schwer gehabt“, erzählt Hahn. Lediglich fünf Prozent aller Asperger-Autisten bundesweit haben einen Job.

Viele Autisten lernen, sich zu verstellen. „Das geht aber meistens schief“, weiß Thomas Auer aus Erfahrung. „Ich habe Vorstellungsgespräche gehabt, da hat mein Gegenüber schon nach wenigen Minuten gemerkt, dass etwas mit mir nicht stimmt.“

Kaugummi Kauen kann zum Problem werden

Thomas Auer an seinem Arbeitsplatz in der bayerischen Pfandbriefbank. Er ist Autist.
Thomas Auer an seinem Arbeitsplatz in der bayerischen Pfandbriefbank. Er ist Autist.

© Andreas Heddergott

Bei Auticon machen sie es umgekehrt. Bevor Coaches wie Dieter Hahn einen Mitarbeiter vermitteln, sensibilisieren sie dessen künftige Kollegen. Dass vielen Autisten Blickkontakt unangenehm ist, lernen die dann zum Beispiel. Und Kaugummi kauen zum Problem werden kann: Autisten sind sehr geräuschempfindlich.

Auch Smalltalk und Höflichkeitsfloskeln darf man von einem Autisten nicht erwarten. „Teilt eine Kollegin unter Tränen mit, dass sie entlassen wird, kann es vorkommen, dass der Autist schlicht entgegnet: ’Du hast noch meinen Kugelschreiber.’“, sagt Hahn. „Wir waren sehr neugierig, wer da kommt“, sagt Thomas Auers Abteilungsleiter über die erste Begegnung. „Und dann positiv überrascht.“

Autismus gilt als kognitive Behinderung. Doch behindert wirkt an Thomas Auer wenig. Bloß manchmal, wenn er sich besonders konzentriert, beginnen seine Augenlider leicht zu flattern. Das sieht dann vielleicht etwas seltsam aus.

Autisten sind Teamplayer

Autisten sind nicht egoistisch: Ihre Ergebnisse teilen sie gerne mit anderen. „Selbst, wenn sie sich dadurch überflüssig machen“, sagt Hahn.

Wie denkt ein Autist? Das wird Dieter Hahn oft gefragt. Dann holt er die Zeichnung mit dem Tannenzweig hervor. „Wir sehen den Zweig“, sagt er. „Der Autist sieht einen Hauptast à 400, zwei mittlere à 200 und drei kleine Äste à 100 Nadeln.“

So hilfreich das sein kann, so schwer macht es das für das Umfeld oft, das Handeln des Autisten zu verstehen. „Mein vorheriger Chef hat oft geschimpft“, sagt Thomas Auer. „Alles Mist, was Du machst.“

Auch sein jetziger Chef war anfangs irritiert, wenn er eine Liste von ihm zurückbekam, gibt er zu. „Die war dann kunterbunt.“ Thomas Auer würde einen Rechtschreibfehler niemals in der gleichen Farbe markieren wie einen Zahlendreher. Womit viele Arbeitnehmer bei der Bewerbung kokettieren, das trifft auf ihn tatsächlich zu: Er ist zu perfektionistisch.

Er korrigiert auch ungefragt

„Ich kann schwer loslassen“, sagt er. Und er korrigiert auch ungefragt. Seine Kollegen haben deshalb gelernt, die nicht relevanten Spalten der Excel-Tabelle auszublenden, bevor er sie bekommt. Er würde sonst auch die untersuchen. Wo das nicht geht, sind klare Ansagen gefragt: „Die Variablen kannst du ignorieren“, sagt sein Chef im Mittagsmeeting. Thomas Auer nickt.

Nicht alle Autisten haben eine mathematisch-analytische Begabung. Es gibt auch musische Talente. Auticon aber fördert ausschließlich Analysten. Thomas Auer hat durch einen Zeitungsartikel von der Standortgründung in München erfahren. Und ein mehrtägiges Auswahlverfahren durchlaufen. „Auticon ist kein sozialer Verein, sondern ein Unternehmen, das Gewinn machen will“, sagt Hahn. „Wir machen hier keine Beschäftigungstherapie.“

Das gefällt denen, die sich angesprochen fühlen. Immer mehr Menschen schicken ihre Bewerbungen. Auticon zahle branchenüblich, sagt Hahn. Deutschlandweit gibt es inzwischen knapp 40 Consultants in München, Düsseldorf, Frankfurt am Main und Stuttgart. In Hamburg und Braunschweig sind Standorte in Planung.

Freizeit? Er studiert

Thomas Auer treibt seine Karriere derweil weiter voran. Wenn er abends den Rechner runterfährt und seinen Rucksack schultert, um zu seinen Eltern zurück nach Weilheim zu fahren, hat er bereits neue Zahlen im Kopf: Parallel zu seinem Job absolviert er ein Fernstudium. Bis in die Nacht sitzt er über den Büchern und lernt.

Ende des Jahres geht das Projekt, an dem er bei der Pfandbriefbank arbeitet, zu Ende. Im Januar 2015 warten dann anderswo neue Herausforderungen auf ihn.

Ein anderer Consultant hingegen hat sich entschieden, nicht länger für Auticon zu arbeiten, erzählt Dieter Hahn enttäuscht.

„Die Firma, in der er zuletzt eingesetzt war, hat ihn abgeworben.“

Auch das gehört zur Inklusion.

Der Text erschien in der Tagesspiegel-Ausgabe vom 3. Dezember 2014. Das Inklusion-Spezial können Sie als ePaper kaufen. Die wichtigsten Fragen zum Thema Behinderung beantworten wir hier in aller Kürze.

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