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Wirtschaft: Brigitte Nozynski

Geb. 1911

Sie hätte dem Baum leicht ausweichen können. Einfach rechts oder links. Mit sieben verlor sie den Vater. Die Mutter, eine Weißplätterin, zog einige Jahre später nach Ostpreußen zu einem Witwer und dessen Kind. Brigitte Nozynski blieb bei den Brüdern in Berlin. Die Brüder gingen arbeiten, sie erledigte den Haushalt. „Du bist ein Mädchen, Bildung ist für dich nicht wichtig!“ Wer so aufwächst, dessen Seele verkümmert schnell.

„Ich hab doch nichts gelernt!“, sagte sie oft. „Dann mach doch die Augen auf!“, stöhnte ihre Tochter. „Ich bin eben naiv“, erwiderte die Mutter. – „Mutti, naiv ist man bis 25, danach grenzt das an Dämlichkeit!“ Nur an wenigen Tagen im Jahr gab es keine solchen Diskurse – wundersamerweise an jenen, die in den meisten Familien besonders berüchtigt sind: den Weihnachtstagen. „Es lag wohl an den vielen Kerzen“, sagt die Tochter.

Die Geschichte mit dem Baum: Brigitte Nozynski rodelte mit ihrer Tochter den Teufelsberg hinunter. In einiger Entfernung stand einsam ein Baum. Die Fahrt wurde schneller, der Baum immer größer. Sie hätten ihm leicht ausweichen können, entweder links oder rechts. Brigitte Nozynski konnte sich im entscheidenden Augenblick nicht entscheiden.

Woher kam das nur, diese gelegentliche Unentschiedenheit, dieses Schwanken zwischen den Möglichkeiten? Auf der einen Seite war Brigitte Nozynski vor Spontaneität und Wissbegierde kaum zu bremsen, auf der anderen haderte sie oft mit sich selbst und rang mit einem Schatten, den niemand außer ihr sah.

Ende der zwanziger Jahre hatte sie ihren Mann kennen gelernt, da war ihre Seele zum ersten Mal aufgeblüht. Er war Schriftsetzer bei Ullstein und hatte ein genaues Bild von der Welt. Was sie versäumt hatte, holte sie nun akribisch nach. Sie ging ins Theater, verschlang Bücher und begeisterte sich für die Oper. Sie brachte sich das Nähen bei und meisterte die kompliziertesten Schnitte. Aber nicht immer war ihr bewusst, was das Kleine im Großen bedeutete. In aller Öffentlichkeit zu repetieren, was im kleinen Kreis oder auf den Familienfeiern gesprochen wurde, riet man ihr ab. Mit Argwohn betrachtete ihr Mann den Aufmarsch der Nazis. „Unter Hitler keine Kinder!“, sagte er.

Mit der Geburt der Tochter 1948 lernte sie, was es heißt, wenn Kinder bedingungslos ihrer Neugier folgen. Ursula, die kleine Bärin, machte ihrem Namen alle Ehre. Als Baby raste sie à la Panzerkreuzer Potemkin im Kinderwagen einen Abhang hinunter. Mit zwei legte sie ihren rechten Zeigefinger auf den Holzblock, fasziniert davon, wie das Holz unter der Axt zerspliss. Der Vater konnte den Schwung noch abbremsen, doch eine Narbe blieb. Einmal beschloss die Tochter, mit dem Nachbarsjungen auf Weltreise zu gehen. Am Abend wurden die beiden am Landwehrkanal gefunden, begeistert von der großen Welt.

Die Tochter war im Leben kaum zu bremsen, die Mutter in den düsteren Gedanken und Erinnerungen. Jahrelang träumte sie von einer Wiese, auf der Löwen lagen. Kaum betrat sie die Wiese, erhoben sich die Löwen und sprangen brüllend auf sie zu. Was am Ende des Krieges geschehen war, als ihr Mann in Frankreich in Kriegsgefangenschaft gesessen hatte und sie in Berlin auf marodierende russische Soldaten getroffen war, behielt sie lange Zeit für sich. Erst nachdem sie ihrem Mann und ihrer Tochter davon erzählt hatte, blieben die Löwen auf der Wiese liegen.

Ende der Sechziger begann für sie die große Zeit des Lernens. Nur mit Reisen lässt sich das Rentner-Leben ja schlecht füllen. Während die Tochter unverdrossen dem Freiheitsdrang der Achtundsechziger folgte, zog Brigitte Nozynski mit ihrem Mann von einem Volkshochschulkurs zum anderen. Nebenbei begann sie, Französisch zu lernen. Dreißig Jahre lang, bis ins höchste Alter fuhr sie jeden Montag zum Kurs nach Charlottenburg.

In Neukölln gründete sie Anfang der Achtziger ein Informationsblatt für Senioren. Wenn sie für einen Artikel etwas genauer wissen wollte, fragte sie eben nach: Zeitungsredaktionen, Abgeordnete, Bundespresseamt, Bundeskanzleramt. Als einige Mitstreiter für Muttertagsgedichte anstelle von handfesten Informationen für den Alltag plädierten, stieg sie aus.

Ihr rechter Fuß schmerzte sie beim Auftreten, sie begab sich zur Untersuchung ins Krankenhaus. Dort wurde eine fortgeschrittene Entzündung am Knochen diagnostiziert und ihr großer Zeh amputiert. Es war das erste Mal, dass sie anderen das Nachforschen überließ. Sie hat das Krankenhaus nicht mehr lebend verlassen.

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