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Wirtschaft: Cinzia Karas

Geb. 1992

Im Wasser ist der Körper ein Freund. Im Wasser ist alles leicht. Das Foto über dem Kinderbett zeigt ein Mädchen mit bunter Brille und großen, goldenen Ohrringen. Ein fröhliches Kind, das Erwachsen-Sein spielt. Ein intelligentes Kind, das oft Einsen aus der Schule mitbringt, ohne sich dabei groß was zu denken. Neugierig auf alles, feinfühlig, eigenwillig. Bei den Schulaufgaben, der Handarbeit, dem Puzzle, dem Klavierspielen, nie sagt das Kind: Mama, mir ist langweilig. Ein temperamentvolles, ein geduldiges Kind. Wenn eine neue Fernbedienung zu programmieren ist, sagt es: Mami, gib schon her.

Das Kind träumt davon, später mal Richterin zu werden. Ruhig dasitzen, die wilde Welt vor sich treten lassen und klug urteilen. Bloß nicht zu viel bewegen. Bewegung ist teuflisch. Immer hat das Kind irgendwo blaue Flecke. Es macht nicht mit beim Sport. Es bleibt zuhause, wenn die anderen auf Klassenfahrt fahren. Warum, darüber schweigt das Kind vor den anderen Kindern. Das geht niemanden etwas an, das versteht doch niemand. Davon zu erzählen, würde auch nichts ändern.

Frühsommer am Schlachtensee. Die Mutter sitzt fröstelnd auf dem roten Korbsofa, die Wolldecke über die Beine gezogen. Sie hört Cinzia fragen: „Mami, würdest du dir lieber ein anderes Kind wünschen?“ Sie hört sie sagen: „Ich habe keine Angst vor dem Tod.“

Wie darf es überhaupt sein, dass ein zwölfjähriges Mädchen sich solche Gedanken macht? Bei wem in diesem verdammten Universum kann man sich über so etwas empören? So fragt die Mutter.

Wie weich und zart ihre Haut ist. An Füßen und Händen schimmern noch die feinsten Äderchen durch. Und wenn man sie im Arm hält: wie heftig ihr Herz schlägt. Cinzia lernt später laufen als andere, braucht keine Krücken, geht eigentlich normal. Aber jeder Schritt ist für sie ein Schmerz.

Ohne Wehen bringt die Mutter sie zur Welt. Schon bei der Geburt ist ein Fuß verdreht, das Bein muss in Gips. Cinzia ist wenige Wochen alt, als ihre Mutter sie zum ersten Mal zur Krankengymnastik trägt. Mit zwei Jahren müssen ihre Augen operiert werden. Ständig ist sie krank. Später sind 800 Meter Schulweg eine Riesenhürde, nur mit dem Fahrdienst zu überwinden.

Ehlers-Danlos-Syndrom. „Schlangenmenschen“ im Zirkus, die ihre Beine um den Kopf wickeln, sich Knoten in die Daumen machen, leiden oft unter dieser seltenen Erbkrankheit. Alle Gliedmaßen sind überbeweglich, instabil. Nur ein paar hundert Fälle davon gibt es in Deutschland, es gibt keine Heilung und keine Therapie.

Collagenmangel, eine Bindegewebsschwäche, das klang erst so harmlos, nach schwabbeligen Oberschenkeln, sagt die Mutter, was soll man sich darunter bloß vorstellen? Doch Collagen sorgen für Stabilität – in jedem Muskel, jedem Organ, jedem Blutgefäß. Für den so selbstverständlichen Halt des Körpers in sich selbst. Cinzia hat das Gefühl der Stabilität nie kennen gelernt.

Sie schaut ihrer Mutter, der Gymnastiklehrerin, staunend bei der Arbeit zu und sagt: „Mami, du turnst wirklich von allen am besten.“ Als könne sie nicht glauben, wie ausgerechnet sie die Tochter dieser Frau sein kann, so beweglich und kerngesund. Nach der Schule fährt die Mutter sie von Spezialist zu Spezialist, zum orthopädischen Schuhmacher, zum Optiker, zur Krankengymnastik. Jeder einzelne Tag gehört der Arbeit an der Hoffnung, dass es besser wird, dem Kampf um ein normales Leben. Vielleicht hilft ja Krafttraining, schlägt die Mutter den Ärzten vor, eine gewisse Stärkung der Muskulatur. Und therapeutisches Reiten? Vielleicht ist es ja nur der leichtere Typ der Krankheit. Mit dem, sagen sie in der Selbsthilfegruppe, kann man alt werden. Sechzig Jahre, vielleicht etwas mehr. Die Mutter schläft seit Jahren schlecht. Und Cinzia sagt: Mami, du musst auch mal was für dich tun. Geh doch mal ins Kino.

Das Kind kommt in die Pubertät, verliebt sich zum ersten Mal. Hat Geheimnisse, Sehnsucht nach einem eigenen Leben. Tuschelt und kichert stundenlang mit der Freundin. Liegt hingebungsvoll in der Badewanne. Nur im Wasser ist der Körper ein echter Freund und kein Gefängnis. Im Wasser ist alles leicht.

„Cinzi, komm langsam raus, dir wachsen noch Schwimmhäute“, ruft die Mutter nach zwei Stunden.

Ein Korsett aus Kunststoff soll sie bald tragen. Ich hasse diese verdammten Ärzte, sagt Cinzia. Zwei Wochen vor ihrem 13. Geburtstag füllt sich ihr Herz plötzlich mit Blut. „Gut“, sagt die Mutter, „dass ich nicht wusste, wie nah die Gefahr wirklich war. Ich hätte ihr mit meiner Sorge ja jede unbeschwerte Stunde vermiest.“

Das Puppenhaus, die Tierpuzzles über dem Bett, Cinzias Bücher, ihr Klavier. Alles ist fast so, als sei sie noch da. Die Mutter sitzt oft im Kinderzimmer, eine Kerze brennt. Die Tür lässt sie immer offen, damit das Kind schnell bei ihr sein kann. Denn irgendwo muss sie doch noch sein, das spürt sie. „So ein Quatsch, Mama“, würde Cinzia sagen, „das mit der Tür. Ich kann doch jetzt auch durchs Schlüsselloch kommen.“

Kirsten Wenzel

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