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Blick nach vorn. Cornelsen-Chef Alexander Bob sagt: „Nichtstun ist keine Option“. Mitarbeiter werfen ihm rüde Methoden vor. Foto: Imago

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Cornelsen: Klima der Angst im Berliner Schulbuchverlag

Der traditionsreiche Berliner Cornelsen-Verlag baut ein Viertel seiner 1000 Stellen ab. Mitarbeiter berichten von massiven Drohungen der Geschäftsleitung.

Das Ziel fest im Blick, so präsentiert sich der Cornelsen Verlag: „Wir wollen nach vorne schauen und sind uns sicher: Das digitale Schulbuch der Zukunft ist von uns“, sagt Alexander Bob, Chef des Berliner Schulbuchverlags. Der Blick richtet sich auch nicht zuletzt deshalb nach vorne, weil die Gegenwart wenig Anlass zur Freude bietet. Cornelsen, 1946 in Berlin gegründet, wird radikal umgebaut – und rund ein Viertel der knapp 1000 in Berlin Beschäftigten soll bis Jahresende das Unternehmen verlassen haben.

Schon seit dem vergangenen Herbst herrscht in der Belegschaft ein Klima der Angst. Viele fürchten um ihre Jobs. „Es kann jeden treffen, es ist nur die Frage, wen“, berichtet ein Mitarbeiter, der bleiben darf, aber nicht namentlich genannt werden möchte. Cornelsen will den Stellenabbau möglichst lautlos regeln und hofft auf freiwillige Abgänge durch Aufhebungsverträge.

Doch was das Unternehmen freiwillig nennt, geschieht offenbar vielfach nur unter heftigem Druck. Mitarbeiter berichten von Drohungen der Geschäftsleitung. Es heißt, langjährig Beschäftigte seien wie „Müll behandelt“ worden. Jörg Reichel von der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi wirft dem Traditionsunternehmen vor, Aufhebungen systematisch zu erzwingen. „Es wird aggressiv Druck auf die Mitarbeiter ausgeübt“, sagte er dem Tagesspiegel. „Die beruflichen Leistungen werden in Grund und Boden geredet, damit das Angebot angenommen wird.“

200 Mitarbeitern hat die Geschäftsführung seit Januar Aufhebungsangebote gemacht. Wird das Angebot angenommen, zahlt das Unternehmen eine Abfindung, deren Höhe sich an der Betriebszugehörigkeit orientiert. Maximal gibt es anderthalb Jahresgehälter. 174 Angestellte haben unterschrieben, rund 50 scheiden freiwillig aus; sie gehen in den Vorruhestand oder wechseln in den Schuldienst. Cornelsen rechnet mit weniger als 30 betriebsbedingten Kündigungen. Den Vorwurf, dieses Ergebnis nur durch Drohungen und Druck zu erreichen, weist Cornelsen- Sprecher Klaus Holoch zurück.

Im September beginnt Cornelsen, deutlich dünner besetzt, seine gesamte Organisation umzustellen. Ziel ist es, alle Arbeitsabläufe auf die digitale Produktion umzustellen. Dazu werden Prozesse vereinheitlicht und standardisiert, die Herstellung mit rund 70 Personen wird faktisch abgeschafft, Redakteure werden die Aufgaben zum großen Teil übernehmen. Holoch verteidigt den harten Kurs: „Es wird nicht alles am ersten Tag perfekt sein, aber am zweiten.“ Prozessumstellungen in einer solchen Dimension können nicht schleichend erfolgen. „Man wollte jetzt den Schnitt“, sagt der Cornelsen-Sprecher.

Der Umbau, für den laut Cornelsen Investitionen im niedrigen zweistelligen Millionenbereich vorgesehen sind, ist auch für Verdi und die Belegschaft nachvollziehbar. Doch über das Wie gibt es Streit. „Längerfristig ist ein Abbau von Arbeitsplätzen strukturell verständlich“, räumt auch der Cornelsen-Mitarbeiter ein. „Aber mussten gleich so viele Leute auf einmal gehen?“, kritisiert er die Hau- Ruck-Lösung der Geschäftsleitung. Die Skepsis ist groß, dass die neue, personell ausgedünnte Organisation funktioniert.

Ursache für den größten Umbau in der Unternehmensgeschichte sind zwei Trends, die der gesamten Branche zu schaffen machen. Zum einen gehen die Schülerzahlen seit Jahren kontinuierlich zurück, zum anderen haben die Verlage mit der Digitalisierung zu kämpfen.

Cornelsen verkauft noch etwa 40 Millionen Bücher und Lehrmaterialen im Jahr, doch bis 2030 rechnet Geschäftsführer Bob mit 20 Prozent weniger Schülern und entsprechend weniger Absatz. Angaben zu Umsatz und Gewinn macht Cornelsen nicht, Bob spricht von schwarzen Zahlen. Der Umsatz schrumpfe allerdings analog zu den Schülerzahlen – um etwa zwei Prozent pro Jahr. Auch die beiden anderen großen Schulbuchverlage, Klett und Westermann, spüren den Rückgang. Insgesamt setzte die Branche im vergangenen Jahr 304 Millionen Euro um, acht Prozent weniger als noch 2008. Neben der Demografie zwingt die Digitalisierung die Verlage zum Umdenken. Gegenwärtig sind nur vereinzelte Modellschulen mit der nötigen Hardware ausgerüstet, um digital gestützten Unterricht anzubieten. Investitionen in die Entwicklung digitaler Schulbücher und Software sind für die Verlage auch deshalb riskant, weil die Erlöse ungewiss sind. Aber: „Nichtstun ist keine Option“, weiß Cornelsen-Chef Bob. Ein Zögern heute könne morgen Marktanteile kosten.

Kritiker des Radikalkurses verweisen auf die Wettbewerber. Klett zeige, dass die Umstellung auf das digitale Zeitalter auch ohne personellen Kahlschlag möglich sei. Während die Cornelsen-Gruppe 2009 im Printgeschäft expandierte und den Duden-Verlag kaufte, stellte Klett im gleichen Jahr auf Digitalisierung um. Die Herstellung musste grundlegend verändert werden, aber der Verlag nahm sich dafür Zeit und konnte Entlassungen vermeiden. Seit 2011 ist nach Angaben der Verlagsgruppe, die 2800 Mitarbeiter beschäftigt, jedes Schulbuch digital verfügbar. „Heute sind wird heilfroh, dass wir damals den Schalter schon umgelegt haben“, sagte Klett-Chef Philipp Haußmann dem Tagesspiegel. Auch der Cornelsen-Verlag beeilt sich nun umzuschalten. Wer hinten dran ist, für den gibt es nur den Blick nach vorn.

Luca Spinelli

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