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Wirtschaft: David Harris

(Geb. 1938)||Elektrische Geräte kaufte er für 110 Volt und 60 Hertz, „nur für den Fall“.

Elektrische Geräte kaufte er für 110 Volt und 60 Hertz, „nur für den Fall“. Das Haus seiner Kindheit in Ypsilanti, Michigan, erinnerte ein wenig an „Vom Winde verweht“. Eine Villa im viktorianischen Stil mit schneeweißen Säulen. Sein Vater war Besitzer einer Privatklinik, seine Mutter herrschte mit unerbittlichen Ansprüchen und körperlicher Zucht über ihre fünf Jungs. Dave war begabt – als Zehnjähriger übersprang er sogar eine Klasse. Doch mit 18 floh er aus dieser Welt aus Luxus, Druck und Lieblosigkeit. Er landete in Berlin, zunächst für ein Jahr als GI. Das muss Ende der Fünfziger gewesen sein.

Als seine spätere Frau ihn 1974 kennenlernte, nächtigte er in einer Neuköllner Wohnung am Weichselplatz genügsam auf einer Matratze, trug seine Klamotten in den Waschsalon, hatte keine Krankenversicherung, dafür ein riesiges Loch im grauen Pullover. Er verbot ihr, es zu stopfen, es sei denn, sie würde eine stark kontrastierende Farbe wählen, zum Beispiel knallrot, damit ihre künstlerische Leistung erkennbar gemacht wäre.

Bloß keine Ausbeutung! Auch dem amerikanischen Militär stand Dave längst reserviert gegenüber. In seinem GI-Center in Tempelhof trafen sich Soldaten, um Thanksgiving zu feiern, erhielten juristische Beratung und tatkräftige Unterstützung, zum Beispiel bei rassistischen Übergriffen, oder wenn sie sich der militärischen Haarrasur widersetzen wollten. Einigen hatte Dave zur Zeit des Vietnamkriegs geholfen zu desertieren. Viele kennen seinen Namen wegen der soldatischen Antikriegszeitungen „Forward“ und „Up against the wall“, die er herausgegeben hatte.

Zum Studieren nach Berlin zurückgekehrt, war er längst ein Teil der hiesigen Linken geworden. Sein Deutsch: verwirrend makellos, ohne Akzent oder Grammatikfehler. Politisch geschult durch die Moabiter Polit-WG und den „Kapitalarbeitskreis“ an der FU, passte er mit seiner Verachtung alles Oberflächlichen perfekt in die deutsche Umgebung. Wären nicht seine Vorlieben für XXL-Portionen und seine Neigung, sich gelegentlich mit Schuhen aufs Bett zu legen, man hätte seine amerikanische Herkunft glatt vergessen können.

Belesen wie ein Professor, hat er auch nach 22 Semestern kein Studium abgeschlossen. Aus der geplanten Doktorarbeit über Brecht war nach der Emeritierung eines befreundeten Lehrstuhlinhabers nichts geworden. Er sprach nicht viel darüber, und dass er deswegen nicht mehr nach Amerika zurückkehren konnte, erfuhr erst recht niemand. Dort hatte der Vater in der Presse längst verlauten lassen, der Sohn sei Träger eines deutschen Doktortitels. So wurde die Wahlheimat Berlin auch zu dem Ort, an dem David Harris bleiben musste, ob er wollte oder nicht. Seine elektrischen Geräte kaufte er dennoch bis zum Ende seines Lebens für 110 Volt und 60 Hertz, „nur für den Fall“.

Er war ein kleiner Mann, mit Zöpfchen und in Jeans, doch er hatte Aura. Einer, dem man nicht so leicht widersprach. Und auch kein einfacher Charakter. Das eine Jahr, in dem seine Frau und er in einer Wohnung lebten, behielten beide nicht in besonders guter Erinnerung. Danach blieben sie weiter zusammen, doch wohnten getrennt. Er rief sie oft mitten in der Nacht an: „Wir müssen was besprechen“. Dann hatte er nicht selten einen Plan: ihre ganze Familie nach Amerika einladen, den Garten des Vaters übernehmen. Alles eine Nummer zu groß, doch letztlich gab sie nach. Seine Großzügigkeit steckte sie an.

Gewiss, er konnte auch ein Ekel sein; er putzte sie barsch beim Autofahren runter, weil sie nicht schnell und aggressiv genug fuhr. Er sagte: „Schau ins Wörterbuch“, wenn sie mal nach einer englischen Vokabel fragte. Aber eigentlich war er ein großer Helfer. Nicht zuletzt bei der „Konflikt- und Bildungsberatung“ für Jugendliche, die es zu Hause nicht mehr aushielten oder die Ausbildung schmeißen wollten.

Seiner Frau machte er die tollsten Geschenke. Diamanten im Suppenteller, Flugtickets nach Paris, die Werbetafel auf dem Ku’damm: „Vicki, ich liebe dich!“ Für sie malte er mit der Lupe Tierminiaturen in die Deckel von Holzdosen, übersetzte „Der Wind in den Weiden“ und nahm ein Taxi nach Schöneberg, als Katze Issy starb, obwohl er sich sonst nur die U-Bahn leistete.

Die Küche blieb sein Gebiet, ohne jedes Pardon. Seine Karriere als Koch und Gourmet begann zu Apo-Zeiten in einer Kneipe, mit Spareribs und Chilisuppen. Später träumte er sogar von Rezepten, eine Obsession, die in den Vorbereitungen für das Weihnachtsfest gipfelte. Das zelebrierte er mit Inbrunst und klarer Rollenverteilung. Er: der Chef, die anderen: Hilfskräfte und Esser, höchstens befugt, Kartoffelsalat und Würstchen beizusteuern. Geladen waren stets ihre Töchter aus erster Ehe und Bilal mit seiner Frau, ein junger Mann, dem er nach der Rückkehr der Eltern in die Türkei geholfen hatte, eine Lehrstelle zu finden und danach als seinen „Wahlsohn“ adoptierte.

Daves Pralinen-Kreationen waren berühmt, so wie sein Yorkshirepudding und das Roastbeef. Auch in diesem August schrieb er bereits die Vorratslisten und plante das für ihn, den ewigen Alleinwohner, so heilige Fest der Familie. Spätestens ab September lagerten dann wieder Marzipanrohmasse, Pecannüsse und größere Fleisch- und Geflügelmengen in seinem geräumigen Gefrierschrank.

Er erwartete großen Besuch aus Amerika, hatte alle seine Brüder eingeladen. Doch eine Erkrankung des Immunsystems machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Im Krankenhaus wollte er noch Lesungen veranstalten, aus dem Buch „Eine Tüte Himbeerbonbons“ seines Jugendfreundes Robert Wolfgang Schnell. So gut ging es ihm schon wieder – gab er zumindest vor. Es war wohl doch ernster. Ein paar Tage nach der Rückkehr in seine Wohnung ging er nicht mehr ans Telefon. So als wollte er zum Sterben lieber allein sein.

Kirsten Wenzel

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