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Wirtschaft: Der Eismann

Jedes Jahr kommen 70 000 neue Produkte in die Supermärkte. Bei Mövenpick ist Mark Scheller der Mann für die Innovationen

Berlin/Uelzen - Wenn Mark Scheller aus seinem Fenster schaut, sieht er weder orientalische Märkte noch irische Burgen. Stattdessen blickt er auf Parkplätze, den Bahndamm und Güterzüge. Für Romantik ist im Gewerbegebiet von Uelzen kein Platz. Das gilt auch für das schmucklose Fabrikgebäude, in dem Scheller und seine Kollegen für die Nestlé-Tochter Mövenpick arbeiten. Dennoch entstehen hier am Rand der Lüneburger Heide Eiskreationen, die die „Schätze der Welt“ in die Tiefkühltruhen von Berlin, Bottrop und Bremen bringen wollen. Irisches Whiskey-, andalusisches Mandeleis, marokkanische Pistazie oder belgische Schokolade sollen den Kunden zum Träumen und Mövenpick Marktanteile bringen.

Und das ist schwer. Rund 170 000 Produkte gibt es im deutschen Lebensmittelhandel und in den Drogeriemärkten. „Pro Jahr kommen 70 000 neue auf den Markt“, weiß Sabine Eichner, Geschäftsführerin der Deutschen Ernährungsindustrie. Einige der Neuheiten können Messebesucher derzeit auf der Grünen Woche bestaunen. Doch die meisten Newcomer können sich nicht dauerhaft im Handel behaupten. „70 Prozent der neu eingeführten Produkte sind nach einem Jahr wieder aus den Regalen verschwunden“, berichtet Dietmar Pech-Lopatta von der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK). Das hat unterschiedliche Gründe. „Mangelnde Relevanz“ ist einer davon, aber auch „eine schlechte Distribution“ oder der „nicht feststellbare Neuigkeitswert“. Manchmal ist der Fall aber noch klarer. „Das Produkt schmeckt nicht, oder es wirkt nicht“, sagt Pech-Lopatta. „Viele Konsumenten probieren ein neues Lebensmittel aus und kaufen es dann nie wieder“, räumt auch Sabine Eichner ein.

Bei Mövenpick soll Mark Scheller solche Flops verhindern. 38 Jahre ist er alt, seit zehn Jahren arbeitet er für den Nestlé-Konzern. Scheller hat Koch gelernt, anschließend hat er noch eine Ausbildung zum Lebensmitteltechniker nachgeschoben. Mit zehn Kollegen ist er für die Eisentwicklung verantwortlich: Bestehende Sorten werden verbessert, neue Angebote kreiert. Die Anstöße kommen aus verschiedenen Richtungen. Das Marketing versucht, Trends aufzuspüren, das Gastroserviceteam, das Restaurants betreut, berichtet, was die gewerbliche Kundschaft will. Oft entstehen Ideen aber auch nach Feierabend, „wenn ich mit Freunden diskutiere oder essen gehe“, sagt Scheller.

In seiner Versuchsküche probiert er aus, welche Zutaten zueinander passen. Im Kochtopf erhitzt er Sahne, gibt dies und das dazu und schmeckt ab – so wie man es auch zu Hause täte. Nur die 10 000 Euro teure Eismaschine, die in zwei Minuten perfektes Eis rührt, findet man in privaten Küchen nicht.

Wenn es ums Eis geht, kommt Scheller ins Schwärmen. Eis ist sein Beruf, aber es ist auch seine Leidenschaft. Seine Philosophie lautet: „Weniger ist mehr.“ Mehr als fünf Hauptzutaten sollte man nicht mischen, sagt Scheller. Alles war schon mal da. Die Kunst ist aber, dennoch regelmäßig Neues zu schaffen. Dabei kommt dann so etwas heraus wie das neue Eis des Sommers. „Früchtecomposée Vanilla“ erinnert an Omas Apfelkompott, an heiße Sommer mit kurzen Hosen, an Apfel- und Birnbäume im heimischen Garten. Auch für die Kunden aus der Gastronomie hat Scheller neue Sorten erfunden: Crème brulée mit Zitronengras für die, die es frisch mögen, Schwarzkirsche mit Mandelmilch für die, die es gern süßer haben. Misserfolge kann sich der Eisentwickler nicht erlauben, dafür ist die Produktentwicklung zu aufwendig. Acht bis zehn Ideen gibt es am Anfang, am Ende bleibt ein Produkt übrig. 15 Monate vergehen vom Brainstorming bis zur Markteinführung.

Wenn das neue Eis in den Laden kommt, muss es seine nächste Bewährungsprobe bestehen. Denn der Markt ist hart umkämpft. Eis taucht regelmäßig auf den Sonderangebotslisten der Supermärkte auf – mal gibt es Cremissimo aus dem Hause Langnese billig, mal Mövenpick. Dennoch wolle man an der Qualität nicht sparen, beteuert Nestlé-Sprecher Lars Heil. Im Mövenpick-Eis seien „keine Konservierungsstoffe, keine künstlichen Aromen und keine gentechnisch veränderten Zutaten“, verspricht er.

Dass die Deutschen all das nicht wollen, hat der weltgrößte Nahrungsmittelkonzern – Jahresumsatz 108 Milliarden Schweizer Franken, Gewinn: 15,7 Milliarden Franken – schmerzlich erfahren müssen. Mit seinem Schokoriegel „Butterfinger“ hatte der Konzern in Deutschland Schiffbruch erlitten. Der Grund: Der Riegel enthält gentechnisch veränderten Mais. Aus solchen Fehlern hat Nestlé gelernt. Statt Gentechnik verkauft man jetzt Gesundheit. Verdauungsfördernde LC-1- Joghurts zum Beispiel. Allerdings werden auch die Couch Potatoes weiter bedient: Mit Smarties oder Fertigprodukten. Das bringt sichere Umsätze: Glaubt man einer kürzlich veröffentlichten Allensbach- Studie, greifen vor allem die 14- bis 29- Jährigen gern zu Süßem und Fast Food. Auftraggeber der Untersuchung: Nestlé.

Fragt man die Ernährungsindustrie nach den erfolgreichsten Innovationen der vergangenen Jahre, nennt der Verband das Nespresso-Kaffeesystem von Nestlé, die Smoothies-Fruchtgetränke, die Bionade-Limo und den LC-1-Joghurt. Verbraucherschützer sehen das anders. Vermeintlich „gesunde“ Lebensmittel wie Actimel oder Activia-Joghurt aus dem Haus Danone seien zwar drei Mal so teuer wie normaler Joghurt, aber kaum besser, kritisiert Foodwatch-Chef Thilo Bode. Auch bei Produkten mit vermeintlich „verbesserter Rezeptur“ sollten die Konsumenten misstrauisch werden. Oft würden Aromen oder Geschmacksverstärker zugesetzt, das Produkt werde schlechter – aber teurer, sagt Bode. Sein Fazit: „Das Verhältnis von echten und nur behaupteten Neuheiten ist ungefähr so miserabel wie in der Finanzbranche.“

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