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Jérôme Kerviel: Der Superspekulant

Ende 2007 verbucht er einen Milliardengewinn. Viel zu viel für einen kleinen Bankangestellten der Société Générale. Dann fallen die Kurse, der Bluff fliegt auf. Jérôme Kerviel wird zum Symptom der Finanzkrise. Jetzt wird ihm in Frankreich der Prozess gemacht.

Er hat schmale, verkniffene Lippen. Sie sehen noch schmaler und noch verkniffener aus als damals, vor zweieinhalb Jahren, als das verschwommene Passfoto seines Mitarbeiterausweises der Société Générale um die Welt ging. Nun prangt das Porträt von Jérôme Kerviel auf dem Cover eines Buches. Sein Blick wirkt ängstlich, aber entschlossen, als würde er etwas Gefährliches ins Visier nehmen.

Jérôme Kerviel ist jetzt 33 Jahre alt. Viel zu jung, um seine Memoiren zu schreiben. Das Buch, das er pünktlich einen Monat vor Beginn des nun anstehenden Prozesses gegen ihn veröffentlicht hat, ist in Wahrheit ein Plädoyer in eigener Sache. Es trägt den Titel „Das Räderwerk“. Zweieinhalb Jahre lang hat Kerviel geschwiegen. Nun gibt er viele Interviews, geht in die Fernsehstudios, versucht um Sympathie zu werben. Er will sich als Opfer eines pervertierten Systems präsentieren, nicht als der Täter, als der er vor eineinhalb Jahren plötzlich ins Rampenlicht einer fassungslosen Öffentlichkeit trat. 4,9 Milliarden Euro sollte dieser Mann verzockt haben.

4,9 Milliarden Euro, das war im Januar 2008 noch eine unvorstellbare Summe. Die größte, die je ein einzelner Aktienhändler versenkt hatte. Dagegen wirkten die 700 Millionen Dollar, die Nick Leeson einst verspielt hatte, als er die Barings Bank ruinierte, wie ein Handgeld. Die Journalisten überschlugen sich mit Vergleichen, um das Unvorstellbare zu veranschaulichen: Würde man 500- Euro-Scheine übereinanderstapeln, ergäbe das die dreifache Höhe des Eiffelturms. Genug Geld war das, um 21 Super-Airbusse 380 zu kaufen. Oder 100 000 Patek-Philippe-Uhren des Modells, das Carla Bruni Nicolas Sarkozy zu Weihnachten schenkte.

Inzwischen hat sich der Superlativ etwas relativiert. Sehr viel größere Banken wie Lehman Brothers sind in der Finanzkrise baden gegangen. Ganze Länder werden vor der Pleite gerettet und es wird mit Hunderten Milliarden hantiert. Und Jérôme Kerviel wirkt nur noch wie der erste Dominostein eines höchst anfälligen Geschäfts mit dem Risiko, das einen Börsenguru wie Bernard Madoff das Zehnfache von Kerviels Gaunerei hat verspielen lassen. Aber die Frage bleibt: Wie konnte es passieren? Warum hat es niemand gemerkt?

Am morgigen Dienstag wird Jérôme Kerviel die Stufen des Pariser Palais de la Justice hinaufsteigen, die Trikolore wird auf der Kuppel des Justizpalastes wehen, und während die Kameras der Welt die kleinste Veränderung seines Mienenspiels einfangen, wird er sich alle Mühe geben, gelassen und zuversichtlich zu wirken. Denn genau so gehe er, das hat er im Vorfeld immer wieder betont, in seinen Prozess. Gelassen, zuversichtlich, mit anderen Worten: unschuldig.

Vor dem Pariser Strafgericht muss sich Kerviel wegen Vertrauensbruchs, Fälschung und unbefugter Nutzung von Computersystemen verantworten. Für die 4,9 Milliarden Euro, mit denen er als Arbritagehändler die Bilanzen der Société Générale belastet hat, drohen ihm schlimmstenfalls fünf Jahre Haft und eine Geldstrafe von bis zu 375 000 Euro.

Der Prozess aber wird nicht nur von der Finanzwelt mit Spannung erwartet. Denn es geht in den nächsten zwei Wochen um das ganze System. Wenn Kerviel, wie er behauptet, tatsächlich nur ein kleines Rädchen in der Mechanik des großen Geldes gewesen ist, dann wird hier auch über die Pervertierung des Marktes geurteilt, dann wird hier die Zukunft des Kapitalismus verhandelt.

Kerviel selbst ist zu nah dran, um das zu begreifen. Er wehrt sich dagegen, seine eigenen Taten als Vorzeichen des Sturmes zu lesen, der wenige Monate später das ganze System erschütterte. „Ich bin kein Symptom der Finanzkrise“, schreibt er in seinem Buch. „Ich bin nur ein Mensch, der Fehler gemacht hat innerhalb einer Bank, die sie lange zugelassen hat, weil sie damit Gewinne erzielte.“

Kerviel war bis zum Skandal keine große Nummer, ein „Handlanger“, wie Kollegen ihn nannten, als er bereits Millionensummen verschob. Er galt als keiner jener Golden Boys, die, weil sie über ihre Prämien nicht reden, ihren Erfolg an der Größe ihrer Luxuskarossen messen. Nie betrat er das Parkhaus unter den Türmen der Société Générale, wo Autos stehen wie sonst nur auf dem Genfer Autosalon. Kerviel hatte gar kein Auto. Aber er hatte es geschafft: aus dem „middle office“ in das „front office“, vom Kontrolleur zum Trader.

Aus der fernen Bretagne hatte es ihn nach Paris geführt, als Sohn einer Friseurin und eines Berufsschullehrers, hinein ins Finanzzentrum, nach La Défense, in die Geisterstadt des Geldes. 20 000 Einwohner, aber mehr als sieben Mal so viele Arbeitsplätze gibt es hier. Inmitten des Zentrums steht der Arc de la Défense wie ein glatter Triumphbogen des Raubtierkapitalismus. Die Unternehmen, die hier angesiedelt sind, gehören zu den erfolgreichsten Frankreichs, zu den größten weltweit. Sie heißen Generali, Arcelor und Total. Sie messen sich gegenseitig an der Höhe ihrer Türme. Die der Société Générale sind 167 Meter hoch, 20 Meter niedriger als das Hochhaus von Total, aber die Bank hat zwei davon: Alicante, der Südturm, benannt nach dem roten Marmor aus der spanischen Stadt, und Chassagne, der Nordturm, nach dem weißen Stein des Burgunds.

Kerviel saß im Alicante, sechste Etage, vier Flachbildschirme, zwei Telefone, Abteilung „Delta One“. Tom Cruise nannten ihn die Kollegen im Spaß, weil er ihm wirklich ein klein wenig ähnlich sieht, vielleicht aber auch, weil sie schon ahnten, dass auch Kerviel sich auf einer „Mission Impossible“ befand und hinter seinem glatten Lächeln etwas verbarg. Kurz vor seinem Rausschmiss hatten sie ihn zum „sympathischsten Mitarbeiter“ gewählt. Nicht arrogant, nicht abgehoben. „Mr. Nobody“ eben. Unten im „Valmy“, dem Bistro am Fuß des Büroturmes, erzählten die Kellner von einem unscheinbaren Mann. Und eine Nachbarin meinte, er habe immer freundlich gegrüßt, wenn auch mit gesenktem Blick, als meine er den Hund.

„Delta One“ klingt groß, aber es geht um eher kleine Fische, um Indexwetten, um Zinsdifferenzen, es geht um ein einfaches Prinzip: geringes Risiko bei geringem Gewinn. Kerviels Aufgabe ist es, von kleinen Kursschwankungen an den Börsen zu profitierten. Er kauft Positionen in London, die er gleichzeitig in Frankfurt wieder verkauft. Jedes Geschäft muss mit einem Gegengeschäft abgesichert sein. Das kann, bei hohen Summen, schöne Gewinne bringen. Und es ist, theoretisch, todsicher.

Bei falscher Praxis aber ist es tödlich. Denn alles hängt mit allem zusammen. Und falsch ist schon, dass Kerviel mit viel zu großen Beträgen hantiert. Noch dazu setzt er sie einseitig ein. Sein ganzes Pokerspiel ist ein einziger Bluff. Er arbeitet nach feeling. Und die längste Zeit trügt sein Gefühl nicht. Er trickst, und es lohnt sich. Im Sommer 2005 wettet er mit hohem Einsatz auf einen Absturz der Aktienmärkte. Das Gegengeschäft, um das Risiko abzusichern, täuscht er nur vor. Dann aber erschüttern islamistische Terroranschläge die Innenstadt von London. Die Kurse brechen ein. Kerviel macht 500 000 Euro Gewinn. Daraus werden wahnwitzige Gewinne. Sie sind so hoch, dass er sie vor seinen Vorgesetzten verstecken muss.

Am letzten Geschäftstag des Jahres 2007 verbucht er 1,4 Milliarden Euro plus. Er nennt das seine „Matratze“, ein Polster, das sich jeder Trader anlegt, um Verluste abzupuffern. Aber seines ist sehr dick, viel zu dick. Er muss fiktive Verluste vortäuschen, um nicht aufzufliegen. Und alles geht per Mausklick, per E-Mail, es ist ganz einfach, und Kerviel ist stolz auf sich, das wird er später vor dem Untersuchungsrichter sagen, er ist zufrieden, es geht ihm gut.

Er gehört plötzlich dazu, zu den Großen, den „Unberührbaren“. Er fühlt sich als einer der „Kreuzritter“, wie die Besten der Investitionsbank intern genannt werden. Die gilt als Juwel. Mit 44 Prozent Umsatzanteil ist sie damals die rentabelste Abteilung der Bank. Vom Fachblatt „Risk Magazine“ war sie als bestes Termingeschäftinstitut des Jahres ausgezeichnet worden. Zu diesem Zeitpunkt spielte Kerviel schon seit zwei Jahren falsch.

Später, bei der Hausdurchsuchung in seiner kleinen Zweizimmerwohnung in Neuilly, findet die Polizei eine Ausgabe des Magazins „Investir“. Titel: „Wie man 2008 reich wird.“ Daneben eine Schachtel Zigarren, kubanische Montecristo, und der Koran, zweisprachig, Arabisch und Französisch. Aber was sagt das über Kerviel?

Er ist kein Mathematiker wie die meisten seiner ehemaligen Kollegen. Er hat keine Eliteschule besucht, er hat, wie man in diesem Milieu sagt, „den falschen Stammbaum“. Mit einem normalen Hochschulabschluss galt er als Autodidakt unter all den Experten mit Doktortiteln. Ihnen wollte er beweisen, dass er genauso gut war, wenn nicht besser.

Im Januar 2008 fliegt er auf. Sein Foto geht um den Globus. Das Jahr hatte einfach nicht gut begonnen. Die Märkte stürzten ab. Aber Kerviel setzte darauf, dass sich die Kurse bald wieder erholen würden, darauf setzte er alles, alles auf eine Karte, 50, in Worten: fünfzig Milliarden Euro investierte Kerviel, mehr als anderthalbmal so viel, wie die gesamte Bank wert war.

Er wollte sich, das gibt er bei der ersten Vernehmung zu Protokoll, „als außergewöhnlicher Trader“ erweisen. Doch als der außergewöhnliche Trader am Freitagabend, den 18. Januar 2008 seinen Computer ausschaltet, verzeichnet er 2,7 Milliarden Euro Verlust. Spirale, Schneeballeffekt, diese Wörter wird er später als Erklärung benutzen. An jenem Abend redet er sich noch ein, dass alles gut wird, dass er das Steuer wird herumreißen können. Er fährt ins Wochenende, Luft schnappen in Deauville, dem schönen Seebad in der Normandie – und ahnt nicht, dass er nie wieder an seinem Computer sitzen wird.

Am Samstag rufen ihn seine Vorgesetzten zurück ins Büro. „Wir brauchen ein paar Erklärungen“, heißt es. Sie pressen ihn aus. Noch ahnen sie nichts vom Ausmaß der Katastrophe. Sie haben sich bislang nur über die fiktiven Geschäfte des Vorjahres gebeugt, die irrsinnigen Verluste des laufenden Jahres kennen sie noch gar nicht. Vorsichtshalber rufen sie den Betriebsarzt, der Kerviel nachts zum Taxistand begleitet. Kein halbes Jahr war es her, dass sich einer seiner Kollegen, der ebenfalls falsch gespielt hatte, von einer Autobahnbrücke gestürzt hat. Am folgenden Tag, am Sonntag, gesteht Kerviel alles. In der Bank beginnt der Sturm.

Ein einzelner Händler, der beste der Bank, macht sich daran, Kerviels faule Aktien zu verkaufen. Er beginnt damit am „Schwarzen Montag“. Die Börsen Europas und Asiens sind im Keller, New York hat noch nicht geöffnet. Als am Mittwoch alles verkauft ist, beläuft sich der Verlust für die Société Générale auf 6,3 Milliarden Euro. Verrechnet mit Kerviels Gewinn aus dem Vorjahr macht das 4,9 Milliarden Euro Miese. Niemals, sagt Kerviel heute, hätte er alles zu diesem Zeitpunkt verkauft. Er hätte es ausgesessen. Aber ihn hat da schon niemand mehr gefragt.

Im Prozess wird es nicht um einen Hochstapler gehen, der etwas vortäuschte, was er nicht war. Kerviel kannte die Risiken, die er einging, glaubte aber, sie meistern zu können. Hat die Bank vielleicht die Augen geschlossen, solange Kerviel mit seinen Praktiken Gewinne erzielte? 72 Mal hatten seine Aktionen in den anderthalb Jahren bis zum Eklat intern Alarm ausgelöst. Im September 2007 schrillten die Warnsirenen bei der damaligen Tochtergesellschaft Fimat, heute Newedge, über die Kerviel seine Geschäfte oft abwickelte. Im Frühjahr hatte die französische Bankenkommission dem damaligen Chef Daniel Bouton geschrieben, dass das interne Sicherheitssystem unzureichend sei. Ausdrücklich wies sie auf besondere Mängel bei den Derivateteams hin. Aber nichts geschah.

Im November kam die Mail von der deutschen Terminbörse Eurex, der die verdächtigen Geschäfte von Kerviel aufgefallen waren. Zwei Wochen nahm sich die Société Générale für ihre Antwort Zeit: Kerviel wird befragt, aber er erfindet eine Erklärung, fälscht eine Mail, und das reicht. Kurz darauf, am 26. November, fragt Eurex ein zweites Mal nach. Wieder wird beschwichtigt. Von der französischen Bankenkommission ist die Bank mittlerweile gerügt und zu vier Millionen Euro Strafe verurteilt worden.

Jérôme Kerviel sagt aus, „solange wir Gewinne machten und es nicht so sehr auffiel, solange es ihnen zupasskam, schlossen sie die Augen“. Dabei hätte der Bank auffallen sollen, dass ihr Mitarbeiter im Vorjahr nur vier Tage Urlaub genommen hatte. Und eine Regel besagt: Wer keinen Urlaub nimmt, will nicht, dass andere in seine Bücher schauen. Die „New York Times“ zitierte einen Kollegen Kerviels mit den Worten: „Wir Händler werden indirekt aufgefordert, große Risikowetten abzuschließen.“

So stehen sich vor dem ersten Prozesstag gegensätzliche Begründungen gegenüber. Société-Générale-Vorstand Bouton bezeichnete seinen früheren Mitarbeiter als „Terroristen“. Er soll zum Amokläufer gestempelt werden, zu einem Wahnsinnigen, der sinnlos schöne Gebäude zum Einsturz bringt. Während Kerviel klagt, dass ihm niemand in den Arm gefallen sei.

Um die Katastrophe zu erklären, wird Bouton sagen, man müsse sich Kerviel, diesen Betrüger, wie einen Rennfahrer vorstellen, der ständig die Autos wechselt. Vom Porsche in den Ferrari. Vom Ferrari wieder in den Porsche. Immer wieder gerät er in Radarkontrollen, wird geblitzt, aber man erkennt ihn nicht. Es geht in dieser Welt oft um Autos. Aber Kerviel hat gar keinen Führerschein.

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