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Wirtschaft: Der Welthandelsorganisation fehlen Konzepte für die Zukunft

Mike Moore übt sich in Schönfärberei: "Die Minister haben während der kurzen Zeit in Seattle sehr viel erreicht. Die Positionen haben sich in wichtigen Bereichen angenähert", behauptet der Generaldirektor der Welthandelsorganisation WTO.

Mike Moore übt sich in Schönfärberei: "Die Minister haben während der kurzen Zeit in Seattle sehr viel erreicht. Die Positionen haben sich in wichtigen Bereichen angenähert", behauptet der Generaldirektor der Welthandelsorganisation WTO. In Seattle erlebte die WTO ein Debakel. Auf dem Chaos-Gipfel seiner Behörde schafften es die Vertreter der 135 WTO-Mitglieder nicht einmal, eine Erklärung zu verabschieden. Anstatt eine Welthandelsrunde anzustoßen, ergingen sich die Delegierten in gegenseitigen Beschuldigungen. Moore betont, die Gespräche seien nur "suspendiert". Und weiter: "Wir werden unsere Arbeit hier in Genf zu Ende bringen".

Immerhin müssen die Diplomaten über die weitere Liberalisierung in den Bereichen Landwirtschaft und Dienstleistungen verhandeln. Wann die Gespräche beginnen, das weiß in Genf niemand so recht. Auf einer Sondersitzung des Allgemeinen Rates, des höchsten WTO-Entscheidungsgremiums, wurde vergangene Woche keine Einigung über einen Fahrplan erzielt. Moore bemüht die Geschichte des WTO-Vorgängers Gatt, um das Seattle-Debakel herunterzuspielen: Auch zwei Gatt-Treffen seien ergebnislos beendet worden; in Montreal 1988 und in Brüssel 1990. Damals überstand das Gatt den Stillstand vergleichsweise unbeschadet.

Ganz anders die WTO 1999: In den Tumulten von Seattle ist die WTO massiv demoliert worden. Jetzt mehren sich die Rufe nach einem radikalen Neuanfang. Mehr Demokratie, mehr Transparenz, mehr Effizienz heißen die Parolen. Nichtregierungsorganisationen (NGO) wie Greenpeace fordern einen Beobachterstatus, um das "Demokratiedefizit" der WTO abzubauen. "Ich würde sie wie sachkundige Bürger in den Kommunen behandeln, man hört sie, aber sie treffen keine Entscheidungen", empfiehlt der Leipziger Ökonom Rolf H. Hasse. Pascal Lamy, EU-Kommissar für Außenhandel und europäischer Chefdelegierter in Seattle, fordert nach dem Fiasko "Reformen" in der WTO. Doch jede substantielle Reform rüttelt am Grundprinzip der WTO, der Konsensregel. Und die ist nahezu sakrosankt.

Jedes Mitglied ist formal gleichberechtigt. Jedes Mitglied hat ein Vetorecht - egal ob ein Zwergstaat wie Saint Lucia oder die Supermacht USA. Die Konsens-Regel hat eine Kette von Kalamitäten ausgelöst. Das Feilschen um die Nachfolge des ehemaligen WTO-Chefs Ruggiero dauerte wegen ihr über ein Jahr. Kostbare Zeit wurde in bizarren Marathonsitzungen verschwendet - weil Ruggieros Nachfolger ohne Gegenstimme nominiert werden musste. Unterdessen litten die Vorbereitungen für Seattle. Es blieb kaum Zeit, die Positionen anzugleichen.

Konsens bestand zwischen den Diplomaten nur in einem Punkt: Die Vorbereitungen sind gescheitert. Schließlich rauften sich die Unterhändler zusammen und bestimmten Moore und den Thailänder Supachai als Chefs, die nacheinander amtieren. Der Preis: mit den kurzen Amtszeiten von drei Jahren schrumpft auch die Autorität der beiden Generaldirektoren. Nach seinem hilflosen Auftritt in Seattle blüht Moore zudem ein Schicksal, das vielen amerikanischen Präsidenten erst am Ende ihrer Amtszeit widerfährt: Moore wir zur lahmen Ente. Obwohl er erst drei Monate seinen Traumjob als WTO-Chef innehat. Offiziell ist der WTO-Generaldirektor ohnehin nur Chef der Behörde WTO. Empfehlungen, seine Macht zu stärken, werden Empfehlungen bleiben. Mindestens so lange wie Moore und sein Nachfolger Supachai den Posten bekleiden.

Wie könnte der WTO-Entscheidungsprozess beschleunigt werden? Das Konsensprinzip müsste abgeändert oder ganz abgeschafft werden. Darin stimmen viele Experten überein. "Das wird es mit uns aber nicht geben", stellt ein Botschafter eines Entwicklungslandes klar. "Wir würden uns ja selbst entmachten." Auch die Amerikaner und Europäer denken nicht daran, ihr Veto abzugeben. Wegen des Widerstandes der Armen wird auch ein anderer Vorschlag in der Schublade bleiben: Die Stimmen der Länder nach der Wirtschaftsleistung oder dem Handelsvolumen zu gewichten.

Ganz kühne Fachleute verlangen sogar einen offiziellen WTO-Rat, der in Analogie zum Sicherheitsrat der Uno aufgezogen werden sollte. Die Supermächte USA, EU und Japan sowie einige Entwicklungsländer könnten in dem Gremium die Weichen stellen. Zwar würde ein solcher Rat insgesamt die Effizienz steigern, er wäre aber undemokratisch. Inoffiziell existiert bereits ein WTO-Rat: In so genannten Green-Room-Sitzungen treffen sich die Großen der WTO und Vertreter ausgesuchter Entwicklungsländer. Die dort vorgefasste Marschroute bleibt aber unverbindlich.

Die chinesischen Delegierten dürften nach der WTO-Aufnahme Pekings im nächsten Jahr in den Green Room vorgelassen werden. Mit China wird der ganze Entscheidungsprozess der WTO aber noch komplizierter. Eine radikale Reform müsste mit dem Aus für die Konsensregel beginnen.

Jan Dirk Herbermann

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