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Wirtschaft: Deutschland als Vorbild

Die Diskussion um längere Arbeitszeiten wird auch in anderen europäischen Ländern geführt – nur die Briten wollen kürzer treten

Brüssel/London/Rom - Nach der Einigung bei Daimler-Chrysler auf längere Arbeitszeiten und ein millionenschweres Sparpaket, hat die IG Metall vor einer Ausweitung von Tarifkonflikten gewarnt. Er fürchte, „dass einige Arbeitgeber den Häuserkampf in den Betrieben geradezu herbeisehnen“, sagte IG Metall-Vize Berthold Huber der „Welt am Sonntag“. Es bestehe die Gefahr, dass nun Trittbrettfahrer auf den Zug aufsprängen.

Auch Wirtschaftsminister Wolfgang Clement (SPD) warnte am Samstag: „Arbeitszeit ist kein Dogma.“ Er plädiere dafür, die Arbeitszeit wie bisher differenziert nach Regionen und Wettbewerbsbedingungen zu regeln. Der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertags lobte die Tarifpolitik. Er habe den Eindruck, dass die Gewerkschaften „zunehmend pragmatisch“ agierten, sagte Ludwig Georg Braun der „Berliner Zeitung“.

Die Diskussion um längere Arbeitszeit in Europas größter Volkswirtschaft erregt auch die Nachbarn. In Ländern wie Frankreich und den Niederlanden, die kürzere Regelarbeitszeiten als Deutschland haben, stehen die Gewerkschaften unter Druck, die Verlagerung von Arbeitsplätzen abzuwenden. Die Briten denken hingegen darüber nach, wie die oft unbezahlte Mehrarbeit abgebaut werden kann.

In Frankreich sorgte der Fall des Bosch-Werks Vénissieux in der Nähe von Lyon für Aufsehen: Die Leitung des Elektronikkonzerns drohte damit, Arbeitsplätze nach Tschechien auszulagern. Das Ziel: Mindestens zwölf Prozent der Lohnsumme sollten so eingespart werden. Die Reaktion der 820 Mitarbeiter war eindeutig. Bei einer Urabstimmung erklärten sich am vergangenen Montag 97 Prozent bereit, pro Woche eine Stunde länger zu arbeiten – ohne Lohnausgleich. Die von der sozialistischen Vorgängerregierung eingeführte 35-Stunden-Woche könnte jetzt ins Wanken geraten, denn auch andere Firmen wollen länger arbeiten lassen. Allerdings sind auch führende Politiker der konservativen Regierung gegen längere Arbeitszeiten ohne Lohnausgleich.

In Belgien fordern Arbeitgeber die 40-Stunden-Woche. Gesetzlich gelten noch 38 Stunden. Allerdings weisen Wissenschaftler darauf hin, dass in Belgien ohnehin durchschnittlich mehr als 39 Stunden pro Woche gearbeitet werden. Die Differenz ergibt sich hauptsächlich aus unbezahlten Überstunden. Anders als in den meisten anderen EU-Ländern ist die durchschnittliche Wochenarbeitszeit zuletzt angestiegen. Experten sagen: Das ist einer der Gründe, warum die Arbeitslosigkeit in Belgien in den letzten drei Jahren im EU-Vergleich kaum gestiegen ist.

Die Niederlande haben trotz ihrer relativ kurzen Arbeitszeiten eine im europäischen Vergleich geringe Arbeitslosenquote. Aber die Wirtschaft geriet früher in die Rezession als anderswo, und sie kommt nur langsam wieder in Schwung. In dieser Lage ließen sich die Gewerkschaften in den Tarifverhandlungen zuletzt sogar Reallohneinbußen abhandeln. Daher ist der Druck der Arbeitgeber nach weiteren Zugeständnissen geringer: Die Lohnkosten wurden bereits gedrückt.

Londons U-Bahnfahrer streiken für die 32-Stunden-Woche, und die Statistik weist eine Durchschnittswoche von 35,6 Stunden aus. Doch diese Zeiten stehen nur auf dem Papier, die Regelarbeitszeit in Großbritannien liegt bei 40 oder 42 Stunden. Sie wird zudem oft überschritten – inoffiziell und unbezahlt. Es gehört zum guten Ton, abends länger den Bürostuhl zu drücken. Großbritannien erlaubt Arbeitnehmern als einziges Land der EU, per Unterschrift auf die Beschränkung der Arbeitswoche auf 48 Stunden zu verzichten – oft geschieht das unter Druck. So „schenken“ die Briten der Wirtschaft jährlich unbezahlte Überstunden im Wert von 35 Milliarden Euro. Ein Regierungsbericht kommt allerdings zu dem Schluss, dass die Briten wegen der langen Arbeitszeit oft müde sind und die Effizienz leidet. Auch Familienleben und Gesundheit nehmen Schaden. Deshalb hat die Labourregierung eine Initiative gestartet, die das Gleichgewicht zwischen Arbeit und Freizeit verbessern soll. Die Gewerkschaften halten dies für „Augenwischerei“.

In Italien ist die Arbeitszeitdebatte nur ein Randthema. Die Wochenarbeitszeit liegt bei 39 Stunden. Mehr Grund zur Klage bieten den Arbeitgebern die hohen Lohnnebenkosten und die höchsten Energiepreise Europas. Auch das italienische Bürokratie-, Abgaben- und Sozialsystem schreit nach Reformen. Der neue Arbeitgeberpräsident, Luca Cordero de Montezemolo, hat sich zunächst ein Ziel vorgenommen: Zusammen mit den Gewerkschaften will er die Tarifautonomie zurückgewinnen. Die Regierung Berlusconi hatte zuvor immer wieder ins Wirtschaftssystem eingegriffen. Da de Montezemolo mit den Gewerkschaften kooperieren muss, wird er sie derzeit nicht mit der Forderung nach längeren Arbeitszeiten vor den Kopf stoßen.

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