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Wirtschaft: Deutschland ist kein Defizitsünder mehr

Der EU-Stabilitätspakt wird flexibler angewandt / In guten Zeiten soll gespart werden / Wirtschaftsforscher Burda skeptisch

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Berlin - Die Bundesregierung muss nicht mehr mit einem Defizit-Verfahren der Europäischen Union rechnen, selbst wenn sie in diesem Jahr zum vierten Mal in Folge gegen den Stabilitätspakt verstoßen sollte. Dies sei ein Ergebnis der Verhandlungen der EU-Finanzminister in der Nacht zum Montag, hieß es in Regierungskreisen in Berlin. Die Minister hatten sich nach langem Streit auf eine Reform des Pakts geeinigt, der die Schuldenaufnahme der EU-Länder begrenzen soll.

Zwar wird die Höchstgrenze der Neuverschuldung von drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts nicht angetastet; auch bleibt die Gesamtverschuldung begrenzt. Doch werden Ausgaben für „die europäische Einigung“ – gemeint ist vor allem die deutsche Einheit – rausgerechnet, ebenso Nettozahlungen an die EU. Diese Reform, bei der Deutschland sich durchgesetzt hat, wollen die EU-Staats- und Regierungschefs bei ihrem Treffen am Dienstag und Mittwoch beschließen.

Künftig muss die EU-Kommission auch mehrere neue Kriterien beachten. So kann sie den EU-Finanzministern nicht mehr die Eröffnung eines Defizit-Verfahrens empfehlen, wenn das Land durch Reformbemühungen Sparwillen zeigt. Außerdem soll die Kommission den Schuldenmachern in wirtschaftlich schwachen Zeiten keine kurzfristigen Sparauflagen abverlangen. Zur Rückführung der Schulden bleibt mehr Zeit.

Die Finanzminister haben sich allerdings auch verständigt, den Ländern künftig stärkere Sparleistungen abzuverlangen, wenn das Wirtschaftswachstum in einem Land das so genannte Potenzialwachstum überschreitet, das in Deutschland derzeit bei einem Prozent liegt.

Finanzminister Hans Eichel (SPD) sagte, die Reform sei „kein Freibrief für neue Schulden“. Nach wie vor gehe er davon aus, dass Deutschland seine Neuverschuldung 2005 auf 2,9 Prozent begrenze. Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt widersprach: Dem Verschuldungswettlauf in Europa werde Tür und Tor geöffnet, der EU-Gipfel solle die Einigung der Minister verwerfen, sagte er. Dagegen begrüßten die Gewerkschaften die Reform, da sie mehr öffentliche Investitionen ermögliche.

Der Berliner Wirtschaftsprofessor Michael Burda fürchtet, dass Strukturreformen nun ausbleiben. „Die Stabilität des Euro in zehn oder 15 Jahren wird durch eine Aufweichung der Kriterien gefährdet. Das ist aber eine langfristige Perspektive, für die sich Politiker in der Regel nicht interessieren“, sagte er dem Tagesspiegel. Zwei Szenarien für Deutschland sehe er: „Man könnte sich vorstellen, die Deutschen nehmen den Freiraum, sie senken die Steuern und machen Strukturpolitik und geben so der Volkswirtschaft Schub. Man könnte sich aber auch vorstellen, die Deutschen kriegen diese Kulanz und tun nichts. Und in fünf Jahren stehen wir wieder an dem gleichen Punkt, nur mit mehr Schulden.“

Berlin sei da ein gutes Beispiel: „Bei der Wiedervereinigung stand die Stadt quasi schuldenfrei da, jetzt ist sie völlig überschuldet und kommt da nur sehr schwer wieder heraus“, sagte Burda.

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