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Wirtschaft: Die wilden Äpfel Kasachstans

Ur-Früchte aus dem Tienschan-Gebirge bergen Gene, die den kränkelnden Sorten von heute Heilung versprechen

Unterwegs auf einer Schotterpiste zeigt Aimak Jangalejew auf die umliegenden Gipfel des Tienschan-Gebirges. „Das ist der Garten Adams“, sagt der 89-jährige Wissenschaftler. Plötzlich weist er auf einige Bäume, die nur scheinbar unbedeutend sind. „Dort! Da sind sie.“ Experten gehen davon aus, dass im Tienschan vor Tausenden von Jahren die ersten Apfelbäume gewachsen sind. Und was heute dort steht, sind ihre direkten Abkömmlinge. Das Überleben des Ur-Apfelbaums in Kasachstan verdient weit mehr als eine historische Fußnote. Forscher wie Jangalejew glauben, in den kasachischen Urwäldern liegt der Schlüssel für die Rettung der weltweiten Apfelproduktion, einer 50 Milliarden Dollar schweren Industrie.

Vater des Apfels

Um die mögliche Rolle der kasachischen Bäume als Heilmittel für die kränkelnde Apfelindustrie zu erklären, muss man in der Geschichte 6000 Jahre zurückgehen. Es begann in der Gegend um das heutige Alma Ata. Der Name Alma Ata bedeutet in der Landessprache so viel wie „Vater des Apfels“. Dort wuchsen damals Äpfel, deren Qualität und Aussehen stark an das erinnert, was der Obsthandel auch in unseren Tagen anbietet. Reisende sorgten schnell für eine Verbreitung der Früchte in alle Himmelsrichtungen. Doch die ungehemmte Ausbreitung führte zum genetischen Desaster: Zirka 90 Prozent der heute weltweit verzehrten Äpfel sind letztlich die Abkömmlinge von gerade einmal zwei Ur-Apfelbäumen. Entsprechend dürftig fällt der Fundus der genetischen Abwehrkräfte aus.

Die Geißeln jeder Apfelplantage – wie Mehltau, Schorf und Feuerbrand – haben deshalb leichtes Spiel. Nimmt man das launische Wetter und den steigenden Wettbewerb durch den chinesischen Anbau hinzu, summieren sich die Verluste allein unter den amerikanischen Apfelbauern in den vergangenen sieben Jahren auf 1,7 Milliarden Dollar, sagt James Cranney Jr. von der US Apple Association. Die Industrie, sagt er, steckt „in einer Rezession, womöglich gar in einer tiefgreifenden Krise“.

Krankheiten sind eine Seltenheit bei den Bäumen im Tienschan, die nie kultiviert wurden. Abgeschottet von allen anderen Apfelbäumen, die weltweit wachsen, konnte sich über die Jahrtausende ein breites Arsenal von genetischen Abwehrmechanismen herausbilden. Den Weg aus der globalen Apfel-Krise wollen die Wissenschaftler daher in den kasachischen Wäldern finden.

„Hier liegen einzigartige Ressourcen für die ganze Welt“, sagt Professor Herb Aldwinckle von der Cornell-Universität, die in den USA den Großteil des Wissens über den Apfelanbau verwaltet. „Wir haben entdeckt, dass die kasachischen Äpfel gegen viele Krankheiten resistent sind.“ Im Jahr 1989 ergatterte Aldwinckle eines der raren Visa für die Einreise nach Kasachstan. Dort erwartete ihn Jangalejew, der schon seit den 30er Jahren in den Bergwäldern um Alma Ata forscht und 1941 über die Vielfalt der kasachischen Apfel-Gene promovierte. Nur einige Wodkas später waren die beiden auf Kenner-Tour, bei der der Amerikaner als erster westlicher Besucher in die Geheimnisse der wilden kasachischen Apfelwälder eingeweiht wurde. Als er mit kasachischen Ablegern und Samen nach Amerika zurückkam, war die Sensation perfekt.

Deutsche Spezialisten wollten Jangalejews Apfelgene ebenso testen wie südafrikanische Forscher, die gerade verzweifelt nach Mitteln gegen eine Schädlingsplage suchten. Schon immer bestand wissenschaftliches Interesse an der Verbreitungsgeschichte von Kulturpflanzen, die oft an einem einzigen Ort beginnt. So eroberte Rettich von China aus die Welt, Preiselbeeren wuchsen erstmals in Nordamerika. Am Ursprungsort einer Pflanze suchen Forscher nach Genen, die dort die Jahrhunderte überdauerten und sich ohne Fremdeinflüsse weiterentwickeln konnten. Hieraus versuchen sie, resistente Kreuzungen zu züchten.

Im Anschluss an ihre kasachische Heimat verlief die weitere Reise der Äpfel auch über Amerika, wo man aus ihnen die Sorten Red Delicious und Golden Delicious entwickelte. Diese bilden den Grundstock für 90 Prozent aller Züchtungen, die heute gehandelt werden. Aus dem Red Delicious gewann man Kreuzungen wie den Fuji und den Empire. Der Golden Delicious gab sein Erbgut für Gala, Jonagold oder Elstar. Die Kreuzungen mögen zwar schmackhafter sein als der Golden Delicious, doch die Inzucht machte die Pflanzen auch anfällig für Krankheiten.

Viele Apfelbauern greifen zur Chemie: Im Durchschnitt sprühen die amerikanischen Farmer ihre Apfel-Plantagen gegen Krankheiten und Schädlinge zehnmal im Jahr. Ihre südafrikanischen Kollegen sogar 50 mal. Bei der wachsenden Zahl von gesundheitsbewussten Konsumenten, die chemische Behandlungen ablehnen, schauen sich die Farmer zunehmend nach einer pestizidfreien Lösung um. Die kasachischen Gene könnten der Weg aus dem Dilemma sein: Äpfel, die mit weitaus weniger Behandlung auskommen. Die neuen Kreuzungen wären für lange Zeit vor dem Schicksal der heutigen Sorten sicher, glauben die Forscher. Die Theorie in Praxis umzusetzen, ist jedoch schwieriger als es klingen mag. Bevor eine erfolgreiche Kreuzung an den Markt gehen kann, dürften mindestens noch 25 Jahre vergehen, schätzen die Experten.

Wertvolle Gene

Das Tempo macht Jangalejew ungeduldig. Er hat sich den Schutz des Waldes als natürlichem Ursprung immer neuer Abwehrgene zur Aufgabe gemacht. Die sowjetischen Behörden rodeten den Großteil der Urwälder, die Alma Ata einst umschlossen. Mit Beginn des kasachischen Erdölbooms 1991 wurden die Rodungen auch für den Bau neuer Häuser fortgesetzt. Am Ende blieben von 50000 Hektar Waldfläche im Jahr 1940 gerade einmal 4000 Hektar, so ein Bericht der Vereinten Nationen. Das macht Jangalejew zu schaffen. Wütend schaut er auf einen kahl geschlagenen Hügel. „Warum braucht der da oben eine Villa?“ Für Menschen, die den Wald nicht achten, hat er wenig übrig. „Nichts“, sagt Jangalejew „ist wertvoller als ein Gen.“

Steve LeVine[Alma Ata]

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