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Wirtschaft: Dirk Hößl

(Geb. 1972)||Streckenrekorde im alten Golf. Seine Zeit war ja grundsätzlich knapp.

Streckenrekorde im alten Golf. Seine Zeit war ja grundsätzlich knapp. Mehr Eindruck als das ganze Theaterstück machte er, als er nach der Aufführung auf die Bühne der Aula kletterte. Ganz alleine stand er da, noch in seinem Theaterkostüm, und sang „Living on a Jet Plane“ von John Denver. Ganz allein, ohne Begleitung. Die Sache hätte peinlich werden können, doch das Publikum war hingerissen, der Applaus war gewaltig.

Er war unberechenbar, sagen die Freunde aus seiner Zeit an der Gesamtschule in Schöneberg. Unvergesslich auch die schnöselige Party in Zehlendorf, auf der sie zufällig landeten. Man fühlte sich unwohl, wurde albern. Irgendwann begann er, die Käseplatte mit Frischhalte-Folie abzudecken und in seine Ente zu schleppen. Das halbe Buffet war leer, als er die Party verließ. Nichts konnte ihn aufhalten, schon gar nicht so etwas Banales wie ein Schulferienkalender. Seine Sommer-Urlaube auf der winzigen griechischen Insel Koufonissi verlängerte er hin und wieder. Auf die erste Woche eines neuen Schuljahres konnte man, wie er fand, ohnehin verzichten. Seine Eltern hatten es nicht immer leicht mit ihm.

Schon als Teenager fühlte er sich am wohlsten, wenn viele Leute um ihn herum waren. Zu Hause war er selten, im Café gegenüber seiner Schule oft. Partys und Musik, dafür hat er gelebt. Die Musikkassetten stapelten sich in seinem Zimmer. Nirvana, Pink Floyd, Dire Straits, Diana Ross – ganz egal, Hauptsache die Musik war emotional. Wenn man dazu tanzen konnte, umso besser. Er war ein großer Headbanger: Auf der Tanzfläche stehen, die Füße wie festgewachsen und zu AC / DC den Kopf hin- und herwerfen, bis alle Gedanken weggeflogen sind.

Er wollte Karriere in der Werbung oder in einer Marketing-Abteilung machen. Ein geregelter Studienalltag, gleich nach dem Abitur, kam allerdings nicht in Frage. Also immatrikulierte er sich in einem x-beliebigen Studiengang und jobbte als Fahrer bei einem Fernseh-Reparaturdienst. Ansonsten genoss er das Leben: Reisen, Kneipen, Discos und seinen heiß geliebten Football. Von allem viel und alles intensiv. Sein Brustkorb wuchs in dieser Zeit zu imponierendem Umfang.

Die Diagnose Krebs traf ihn nach einer banalen Sportverletzung. Da war er 22. Fünf Mal wurde er an der Lunge operiert, zwei Mal am Knie, vier Mal am Herzen. Dazu kamen Chemotherapien und eine Reihe alternativer Heilmethoden: Pendeln, Misteltherapie, Homöopathie, das waren die Bekannteren. „Schade, wieder eine Option weniger“, meinte er trocken, wenn ein Therapieversuch nicht angeschlagen hatte. Fassungslos machten ihn Mitpatienten, die trotz gelungener Operation trüben Gedanken nachhingen. Sein Lebenswille war unerschütterlich.

Die Pausen zwischen seinen Klinikaufenthalten füllte er mit so viel Leben, dass niemand, der ihn nicht näher kannte, merkte, wie krank er war. Er zog von einer WG in die nächste, machte eine Lehre als Werbekaufmann, arbeitete viel und gern, reiste nach Thailand und immer wieder nach Griechenland, verliebte sich, trennte sich, hatte Affären. Beim Karneval in Köln lernte er seine letzte große Liebe kennen und wollte wegen ihr sein WG-Leben aufgeben. Die Fernbeziehung führte er unter dem üblichen Hochdruck: Immer wieder versuchte er, seinem alten Golf neue Streckenrekorde abzutrotzen. Seine Zeit war ja grundsätzlich knapp.

Zwölf Tage nach einer Operation an der offenen Lunge saß er wieder am Schreibtisch. Als er nach einer Chemotherapie entlassen wurde, fuhr er nicht zuerst nach Hause, sondern sofort zum Karneval der Kulturen. Sein Mitbewohner entdeckte ihn dort, umringt von Bekannten, das Handy am Ohr, einen Becher Bier in der Hand.

Die letzte Operation am Herzen misslang. Der gesamte linke Vorhof war bereits von Metastasen zerfressen. „Der hat keinen Arsch in der Hose“, sagte er über den Arzt, der ihn operiert hatte und sich davor drückte, ihm die Wahrheit zu sagen. Er wusste schon seit Längerem, dass er nie wieder gesund werden würde.

Nun galt es, noch die letzten Wochen auszukosten. Er fuhr nach Hannover, um sich das WM-Spiel Italien gegen Ghana anzusehen. Das Finale sah er im Krankenhaus und ließ sich, um das Ereignis gebührlich zu feiern, eine Flasche „Beck’s Green Lemon“ servieren. An dem Tag, den die Ärzte für seinen letzten hielten, versammelten sich die engsten Freunde an seinem Bett. Er schaffte es noch, dem Leben drei weitere Tage abzuringen, die er mit Eltern, Freundin und seinem Mitbewohner verbrachte. Im Krankenzimmer hing eine Foto-Collage, die seine beste Freundin gebastelt hatte. Auf einem einzigen der Bilder ist er alleine drauf, auf allen anderen lacht er und ist umgeben von Freunden.

Kirsten Schiekiera

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