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Wirtschaft: Ein Albtraum vom schnellen Wohlstand

Die chinesische Regierung stoppt den Bau eines riesigen Stahlwerks – und stürzt eine Provinz ins Nichts

Von Matt Pottinger Vor einem Jahr haben Cheng Huajong und Tausende anderer Bauern in der chinesischen Gemeinde Weicun am Fluss Yangtze Verträge unterschrieben, mit denen sie dem Abriss ihrer Häuser und der Umwandlung ihrer Reis und Weizenfelder in eine gewaltige Baustelle zustimmten. Es war nicht die dürftige Entschädigung, die sie veranlasste, ihre Unterschrift unter die Verträge zu setzen, sondern etwas viel Größeres: Die Aussicht, von der Welle der Industrialisierung emporgehoben zu werden, die schon manch anderem chinesischen Nest in den vergangenen Jahren Wohlstand gebracht hat.

In dem in der Provinz Jiangsu gelegenen Ort, etwa 150 Meilen flussaufwärts von Shanghai, sollte auf dem ehemaligen Ackerland ein Komplex von Stahlwerken entstehen und mit ihm gut bezahlte Jobs für jene, die ihr Land hergaben. Die Familien sollten die Möglichkeit haben, von ihren Bauernhöfen in Appartementblocks zu ziehen, die die Stahlgesellschaft und die örtliche Verwaltung zu bauen versprochen hatten. „Ich habe es satt, überall landwirtschaftliche Geräte zu sehen, wenn ich aus dem Haus trete“, sagte der 39-jährige Cheng. „Ohne Industrie ist dieser Ort nur ein toter Winkel.“

Ein Jahr später und nach einer Investition von 500 Millionen US-Dollar (415 Millionen Euro) ist er das immer noch. Die Zentralregierung in Peking hat den Bau gestoppt. Mitarbeiter der lokalen Behörden, Bankiers und Stahlbosse wurden gefeuert oder es wird gegen sie ermittelt. Mehr als 4000 Menschen wurden entwurzelt und stehen ohne Land und ohne die Jobs da, auf die sie gezählt hatten. Cheng, seine Eltern, seine Frau und sein Sohn teilen sich jetzt zwei gemietete Zimmer und warten auf die versprochenen Appartements.

Weicun ist einer Kampagne der Zentralregierung zum Opfer gefallen, die darauf abzielt, das Tête-à-Tête zwischen örtlichen Behörden, Banken und Unternehmen zu sprengen, die – so Peking – „blinde Investitionen“ förderten. China mag politisch gesehen autoritär sein, ökonomisch ist es ein Flickwerk. Die Devise der letzten 25 Jahre, die Entwicklung um jeden Preis voranzutreiben, hat mächtige Lokalpolitiker und Unternehmen hervorgebracht, die sich unabhängig von Peking fühlen und manchmal gar konträr zu dessen makroökonomischer Politik agieren.

Das ist der Fall in Weicun, wo die Vision des 41-jährigen Unternehmers Dai Guofang, in seinem Heimatort aus seiner Jiangsu Tieben Iron & Steel Co. das größte Stahlunternehmen des Landes zu machen, genau das war, was auch den örtlichen Behörden vorschwebte. Mit dem Enthusiasmus der Behörden und dem Ehrgeiz des Jungunternehmers wuchs die geplante Größe des Projektes rasch, die staatlichen Banken waren schnell bereit, etwa 40 Prozent des 10,6 Milliarden Yuan (1,07 Milliarden Euro) teuren Projektes zu finanzieren.

Aber der Stahlsektor wuchs, und die Zentralregierung fürchtete eine Überhitzung der Wirtschaft. Sie verschärfte die Vorschriften, aber das Unternehmen Tieben fand Wege, um sie zu umgehen. Schließlich stand nur noch die Umsiedelung von 4000 Menschen an. Im April 2003 erklärte der stellvertretende Sekretär der Kommunistischen Partei von Weicun den Bauern, für das Verlassen ihrer Häuser erhielten sie eine einmalige Zahlung sowie ein monatliches Gehalt, um sich Zimmer anzumieten, bis die Appartementblocks fertig gebaut seien.

Cheng und seine Familie mussten sich nicht in angemietete Zimmer quetschen. Er und sein Sohn fanden Arbeit auf der Baustelle, wo sie mehr als das Doppelte der monatlich 90 US-Dollar, die Cheng im Durchschnitt als Bauer hatte, verdienten. Sein Bruder bekam einen Kredit von Tieben und konnte so ein kleines Unternehmen gründen, das Sand für die riesige Baustelle lieferte.

Doch an einem Nachmittag im März erschien ein Vorarbeiter und verkündete, man werde für eine Woche die Arbeit niederlegen, weil es Ärger gebe. Einige Kilometer weiter durchsuchten Beamte der Pekinger Regierung Büros von Tieben. Ende April brandmarkte Premierminister Wen Jiabao den Fall als Beispiel für irreguläre Investments durch lokale Behörden, Banken und Unternehmen. Der Leiter der örtlichen Filiale der Bank of China wurde entlassen; gegen Verwaltungsbeamte wurden Ermittlungsverfahren wegen Verletzung von Vorschriften über die Flächennutzung, Investitionen und Umweltschutz eingeleitet; Dai wurde wegen angeblicher Steuerstraftaten verhaftet.

Cheng sagt, er glaube noch daran, dass der Traum vom Stahlkomplex in Weicun wahr werde. Und tatsächlich gibt es Gerüchte, dass die Zentralregierung es einem staatlichen Unternehmen gestatten will, das Projekt, wenn auch in kleinerem Rahmen, fortzusetzen. Das bittere Gerede seiner Nachbarn, die meinen, das Projekt solle nicht wieder aufgenommen werden, will Cheng nicht hören. „Was hätten unsere Opfer dann für einen Sinn gehabt?“, fragt er. „Es ist unmöglich, auch nur daran zu denken.“

Übersetzt und gekürzt von Matthias Petermann (Öl), Tina Specht (Eurotunnel), Svenja Weidenfeld (China) und Karen Wientgen (EU).

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