zum Hauptinhalt
Sooo groß! Früher wuchsen nur Kinder, Bäume, Beeren und Misthaufen. Mit der industriellen Revolution kam der Drang zum Höher, Schneller, Weiter. 1972 warnte der Club of Rome vor den „Grenzen des Wachstums“.

© picture alliance / Everett Colle

Wachstum: Ein neues Maß

Eine Kommission des Bundestags sucht den Kapitalismus der Zukunft – und steht vor dem Scheitern. Nur auf eines hat man sich geeinigt: einen neuen Wachstumsindikator. Künftig soll auch die Vielfalt der Vögel, die Lebenserwartung und die Zahl der Abiturienten eine Rolle spielen.

Eine Batterie von Flachbildschirmen, darauf bunte Diagramme, steile Kurven und allerlei Statistiken, dazwischen kleine rote Warnlämpchen, die hektisch blinken: So ähnlich sieht es im Elektronikmarkt aus, wenn gerade die Börsennachrichten laufen. So ähnlich könnte es bald auch im Foyer des Bundestags aussehen. Einziger Unterschied: Das flimmernde Gebilde ist dann eine „Installation“.

So nennen es jedenfalls die Abgeordneten und Wissenschaftler, von denen die Idee stammt. Ihre Mattscheiben-Show soll Bürgern und Gewählten zeigen, wie es aktuell um das Volk und seinen Wohlstand steht, ob die Natur darbt oder blüht, ob dürre oder fette Jahre anstehen.

Der Einfall kommt direkt aus dem Elfenbeinturm des Parlaments – aus der Enquetekommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“. Sie tagt seit zwei Jahren und soll die ganz großen Fragen von Wirtschaft und Gesellschaft klären: Können wir weiterhin auf grenzenloses Wachstum setzen, ohne den Planeten vollends zu ruinieren? Geht es nicht ein Stückchen kleiner und grüner – bei gleicher Lebensqualität? Und was müsste die Politik dafür tun? Die Mitglieder, streng nach Parteienproporz ausgesucht, wälzen Studien, reden mit Forschern.

Fest steht: Die 34 Mitglieder der Kommission stoßen mit ihren Fragen an die Grenzen der Erkenntnis. Und an die der Politik. Denn in den meisten der fünf Projektgruppen der Enquete herrscht reger Dissens. Das greifbarste Ergebnis ist bislang noch ein erweiterter Wachstumsindikator, der das klassische Bruttoinlandsprodukt ergänzen soll. An diesem Montag will ihn die Kommission beschließen. Doch selbst bei dieser Fleißarbeit für Statistik-Freaks gibt es Streit. Linke und Grüne tragen das Werk nicht mit.

Dabei waren Enquetekommissionen immer ein Ort für die großen Fragen von Gegenwart und Zukunft, abgehoben von der Tagespolitik. Zu Atomkraft, Aids oder „Frau und Gesellschaft“ haben sie in den vergangenen Dekaden getagt und die anschließenden Debatten geprägt. Doch dieses Mal berührt beinahe jede Frage auch das programmatische Fundament der Parteien. Etwa, ob der Staat das Wachstum überhaupt noch fördern soll. Oder ob er Vorschriften für ein umweltbewussteres Verhalten machen soll. Bei der Problemanalyse stimmen die wenigen Damen und vielen Herren noch überein – bei den Ratschlägen an die Politik indes gibt es meist Zoff. „Das liegt auch daran, dass die Koalition die Enquete gar nicht wollte“, sagt der Grünen-Abgeordnete Hermann Ott.

Die Kulisse der Kommission ist die Finanzkrise. Wachstumskritik, seit Jahren ein Glaubensbekenntnis im linken Lager, wurde selbst bei Konservativen salonfähig, seit Banken nur mit Abermilliarden vom Staat gerettet werden konnten. „Wir haben uns eingeredet, permanentes Wirtschaftswachstum sei die Antwort auf alle Fragen“, mäkelte selbst der damalige Bundespräsident Horst Köhler. Auf einmal verfingen die Argumente der Kritiker des „Immer mehr“: Der Kapitalismus richte den Planeten zugrunde, schon heute bräuchte die Menschheit 1,3 Planeten, um ihren Lebensstil zu halten. Mehr Güter, mehr Geld, mehr Schulden – das Mantra des Marktes wirkte plötzlich erschreckend und „Die Grenzen des Wachstums“, der Bericht des Club of Rome von 1972, erstaunlich aktuell.

Doch im Lager von Union und FDP währte der Schock nur kurz. Seit Deutschland seine Nachbarn in Europa alimentieren muss, steht Wachstum für sie wieder an erster Stelle. Das zeigte sich etwa in der Projektgruppe, die den „Stellenwert von Wachstum“ beleuchtete. Während die Koalition Wachstum als „Lösung der ökonomischen, ökologischen und sozialen Herausforderungen“ sieht, ist für die Opposition „Wirtschaftswachstum allein keine hinreichende Bedingung für Wohlstand und Lebensqualität“. Derlei Unterschiede findet Unions-Obmann Georg Nüßlein nicht schlimm. „Bei so grundlegenden Fragen wäre Einigkeit demokratisch gar nicht wünschenswert gewesen“, sagt er lapidar. Beide Lager verkrachten sich derart, dass sie wochenlang nur noch per E-Mail miteinander kommunizierten. Am Ende legten sie zwei getrennte Berichte vor.

Wenn schon Wachstum, dann mit weniger Ressourcen – ob die Abkopplung klappen kann, ergründete eine andere Gruppe. Antwort: Sie kann. Aber zugleich droht der sogenannte Rebound-Effekt: Einsparungen auf der einen Seite gehen durch höheren Verbrauch auf der anderen wieder verloren. Wer auf ein Elektroauto umsteigt, aber mehr unterwegs ist, macht den Sparerfolg zunichte. Wer Biosprit tankt, schont zwar die Ölvorräte, schadet aber dem Regenwald. Tipps für die Politik gibt es auch hier nicht. „Man ist sich einig in Problembeschreibung, das ist ja auch schon was“, freut sich FDP-Politiker Florian Bernschneider. Grünen-Mann Ott hätte das gar nicht zu hoffen gewagt. „Die werden sich noch umgucken, was sie da alles verabschiedet haben“, frohlockt er.

Dass in den zwei übrigen Gruppen, die sich mit nachhaltiger Ordnungspolitik und Konsum befassen, noch viel herauskommt, ist unwahrscheinlich – die Zeit bis zum Endbericht im Mai wird knapp. Bis dato ist das Fazit dürftig: Ein neuer Indikator, ein paar kluge Gedanken zur Umweltpolitik, fertig. Man habe an den Erwartungen ohnehin nur scheitern können, sagt der Münchener Ökonom Kai Carstensen, den die Union berufen hat. „Laut dem Auftrag sollen wir die ganze Welt erklären. Dabei hätte man allein zur Wohlstandsmessung eine eigene Enquete machen können.“

Andere hadern mit den Frontlinien zwischen Opposition und Koalition. „Es gibt ja mehr zwischen Himmel und Erde als Markt einerseits und Staat andererseits“, findet Matthias Zimmer (CDU), der Vizechef der Kommission. Bei ihm schwingt Enttäuschung mit. Doch die Mächtigen in der Koalition haben, so ist zu hören, weitergehende Annäherungen verhindert. Der Frieden im Regierungslager ist in einem Wahljahr wichtiger als konsensuale Wachstumsrezepte.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false