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Wirtschaft: „Eine Leitzins-Senkung um 0,5 Punkte reicht nicht“

John Lipsky, Chefvolkswirt der US-Bank JP Morgan, verlangt weitere Schritte der EZB und findet die Lage besser als die Stimmung

Berlin (brö). Eine Senkung der Leitzinsen um 0,5 Prozentpunkte durch die Europäische Zentralbank (EZB) reicht in der derzeitigen konjunkturellen Lage nicht aus. In den kommenden Monaten müsse der Preis des Geldes weiter sinken, sagte John Lipsky, Chefökonom der USInvestmentbank JP Morgan, dem Tagesspiegel. „Man sollte sich von geringeren Leitzinsen allerdings nicht zu viel versprechen“, dämpfte Lipsky den Optimismus. Niemand wisse, ob dies die Kauflaune der Verbraucher rasch aufhellen werde. Gleichwohl sei die Stimmung von Unternehmen und Verbrauchern in Deutschland derzeit schlechter als die tatsächliche Lage. Kräftiges Wachstum werde es in absehbarer Zeit aber nicht geben, „auch nicht mit einschneidenden Reformen“, erwartet der Ökonom.

Finanzmarkt-Experten hoffen, dass der EZB-Rat auf seiner Sitzung am Donnerstag die Zinsen senkt. Sie liegen seit einem Jahr bei 3,25 Prozent. So sollen Kredite für Firmen und Verbraucher billiger werden, damit die Konjunktur in Schwung kommt. Entgegen der Meinung von Kritikern habe die Notenbank damit nicht zu lange gewartet, findet Lipsky. „Die EZB musste Vertrauen in ihre Politik schaffen. Deshalb war es richtig, die Zinsen lange unverändert zu lassen“, glaubt der JP Morgan-Chefvolkswirt. In Zukunft müssten die Währungshüter aber flexibler reagieren und mehr auf die Konjunktur schauen. Die US-Notenbank Fed hat seit Anfang 2000 elfmal die Zinsen gesenkt, um die Wirtschaft in Fahrt zu bringen.

Unternehme die EZB dagegen nichts, sei dies fatal für die Stimmung. „Damit würde der Frust, der derzeit bei Unternehmen und Verbrauchern herrscht, weiter zunehmen“, warnte Lipsky. Der Reformstau in Deutschland verunsichere die Leute und halte sie vom Kaufen ab. „Die Leute fürchten, dass die Steuern und Abgaben in der Zukunft steigen werden“, sagte der Wirtschaftsforscher.

Allerdings sei die Stimmung übertrieben pessimistisch. „So schlecht ist es auch wieder nicht – die Arbeitslosigkeit ist nicht dramatisch angestiegen, eine tiefe Rezession gibt es auch nicht.“ Im kommenden Jahr werde es ab dem zweiten Quartal langsam aufwärts gehen. Jedoch werde das Wachstum in Deutschland 2003 nur bei 1,2 Prozent liegen, einen halben Prozentpunkt unter dem Mittel der Euro-Zone. Auch die Weltwirtschaft werde sich erholen, „einen Boom wie im Jahr 2000 wird es aber nicht geben“.

Einen Grund für das stärkere US-Wachstum sieht Lipsky zudem in der Verfassung der amerikanischen Unternehmen. Wegen ihrer stärkeren Abhängigkeit von Finanzmärkten und kurzfristigen Krediten stünden sie unter höherem Druck, nach einer Krise wieder profitabel zu werden. In Europa dagegen finanzierten sich Firmen noch stark über Bankkredite. Dies werde sich bald ändern. Die Liberalisierung der Finanzmärkte und die zunehmende private Altersvorsorge werde auch hier die Rolle von Aktionären stärken. „Das bedeutet: Unternehmen müssen für Investoren attraktiv sein, wenn sie von ihnen Geld leihen wollen – und transparent, damit nicht der Eindruck entsteht, ihre Zahlen seien geschönt“, sagte Lipsky unter Anspielung auf die US-Finanzskandale. Das werde auch den Druck auf die Staaten steigern, ihre Arbeitsmärkte zu flexibilisieren. Die Schattenseite dieser Entwicklung seien größere Schwankungen der Wirtschaft.

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